Hat die Wahrheitskommission Südafrika versöhnt?
27. April 2024Unermüdlich harren sie aus, auf dem Constitution Hill oberhalb des Zentrums von Johannesburg. Ihr Gesang hallt über das Gelände des alten Gefängnisses und früheren Militärforts. Dort steht auch das moderne Verfassungsgericht des Landes, teilweise erbaut aus den Ziegelsteinen eines abgerissenen Gefängnisblocks.
Diesen symbolträchtigen Ort hat die Gruppe von älteren Menschen schon seit fünf Monaten als Stätte für ihren Protest und als Schlafplatz eingenommen - in ihrem Kampf für Gerechtigkeit: Sie sind Opfer der Gewalttaten des Apartheid-Regimes. Aber haben von den Anhörungen der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission vor 28 Jahren nicht profitiert.
Im Stich gelassen
Thabo Shabangu war 1990 bei einer Demonstration gegen die Unterdrückung der mehrheitlichen schwarzen Bevölkerung durch das weiße Regime von Polizisten in den Rücken geschossen worden, sagt er im DW-Interview. "Ich bin enttäuscht. Wir sind die Revolutionäre von damals, wir haben diese Regierung gebildet und dafür gekämpft," sagt Shabangu.
Die südafrikanische Regierung sei nicht für das Volk da. Er fühlt sich im Stich gelassen und fordert finanzielle Entschädigung für das ihm widerfahrene Leid im Anti-Apartheid-Kampf, aber auch für medizinische und soziale Unterstützung. Diese Hilfen waren von der Kommission für anerkannte Opfer empfohlen worden. Shabangu ist - wie rund ein Drittel der Südafrikaner - arbeitslos, das Geld für die Ernährung der Familie und Schulbildung ist knapp.
"Wir haben geglaubt, die Kommission bringe uns Gerechtigkeit", klagt er. Aber niemand der Angehörigen der Khulumani Support Group für Opfer und Überlebende schwerer Menschenrechtsverletzungen, die mit ihrer Schwesterorganisation Galela nach Anerkennung suchen, fühlt sich versöhnt.
"Keine Reparationen - keine Wählerstimme"
Nach 30 Jahren Demokratie im neuen Südafrika ist für sie die grausame Vergangenheit nicht abgeschlossen: "Keine Reparationen - keine Wählerstimme", sagt Shabangu. So wollen es die meisten in der Gruppe halten, wenn Südafrika am 29. Mai einen neuen Präsidenten wählt.
Ein Blick zurück: Die Anhörungen vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) begannen im April 1996 und endete im Oktober 1998. Der damalige Präsident Nelson Mandela hatte Erzbischof Desmond Tutu mit dem Vorsitz beauftragt. Ihr Ziel war es, Versöhnung und Vergebung - anstatt Vergeltung - zwischen Tätern und Opfern der Apartheid zu fördern.
Betroffene wurden ermutigt, sich zu melden und Zeugnis abzulegen. Die Kommission konzentrierte sich in dieser Zeit auf Beweise für Tötung, Entführung und Folter von Menschen sowie für schwere Misshandlungen.
Amnestie für Täter
Täter, die vollständig über die Geschehnisse berichteten, erhielten Amnestie - ein schmerzhafter Kompromiss für viele Opfer. Aber durch die Zusage der Straffreiheit kam die Wahrheit über das Schicksal vieler Menschen ans Licht, die spurlos verschwunden waren: verschleppt, umgebracht und irgendwo verscharrt.
In den Gemeindehallen und Kirchen landesweit saßen sich Opfer und Täter häufig gegenüber, erstmals gab es Live-Berichte aus Anhörungen einer Wahrheitskommission. Nur zwei Jahre nach der Machtübernahme durch den Afrikanische Nationalkongress (ANC) drangen die Gräueltaten der Vergangenheit öffentlich ins Bewusstsein. Überwiegend schwarze Südafrikaner hatten unter der Staatsgewalt gelitten, aber auch Weiße, deren Angehörige bei Anschlägen der Freiheitskämpfer starben.
Als die Kommission 2002 ihre komplette Arbeit abschloss, empfahl sie, den mehr als 21.000 anerkannten Opfern monatliche Zuschüsse als Entschädigungen aus dem eingerichteten "President's Fund" zu zahlen. Der damalige Präsident Thabo Mbeki veranlasste jedoch eine einmalige Hilfe in Höhe von damals 30.000 Rand (nach damaligem Kurs knapp unter 3600 Euro), die rund 17.000 Menschen erhielten.
Türen nicht verschließen
Laut Jahresbericht des Fonds standen 2023 noch knapp zwei Milliarden Rand (heute 97 Millionen Euro) zur Verfügung. Kritiker behaupten, die Empfehlungen der Kommission werden nur schleppend umgesetzt. Die Regierung sagt, sie werde den Entschädigungsfonds für Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung für die 22.000 Menschen auf der aktuellen Liste verwenden.
Mehr als 82.000 Südafrikaner haben sich Khulumani seit der Gründung 1995 angeschlossen, die bislang keinerlei Ansprüche geltend machen können. Der Staat habe damals nicht ausreichend bekannt gegeben, wie die Opfer ihre Erklärungen an die Kommission abgeben konnten, sagte Marjorie Dobson, Direktorin der Organisation.
Viele hätten kein Geld gehabt, um an entsprechende Stellen zu gelangen. "Wir haben das alles für das Justizministerium dokumentiert. Es ist völlig ungerechtfertigt, die Türen einfach zu schließen, wenn die Fehler tatsächlich auf der Seite des Staates liegen", sagt Dobson zur DW.
Auch Danisile Mabanga hofft noch auf Entschädigung. Ihre Familie war während der Apartheid gewaltsam vertrieben worden. "Wir wussten von der Kommission, aber wir haben es nicht geschafft, dorthin zu gehen", sagt sie zur DW. "Die Zeiten waren hart und wir hatten Angst." Mandela hätte eine sinnvolle Sache angestoßen, aber die Täter seien zu gut dabei weggekommen, ist ihr Eindruck, den viele Südafrikaner teilen.
Ungenutzte Chancen
Insgesamt baten 7000 Täter um Amnestie, die Kommission gewährte 1500 Anträge. Es waren hauptsächlich Fußsoldaten der Sicherheitskräfte und bereits Inhaftierte. Hochrangige Politiker der Apartheid-Regierung stellten keinen Antrag auf Amnestie.
Die Strafverfolgung von Tätern kam damals kaum voran, heute sind einige Hauptverdächtige bereits tot. "In vielen dieser Fälle ist die Zeit gegen uns, in einigen besteht noch eine Chance auf Strafverfolgung, und wir werden weitermachen", sagt Zaid Kimmie, Direktor der NGO Foundation for Human Rights. "Letztendlich wird es um die Frage gehen, warum wir dazu nicht in der Lage waren, welche Entscheidungen getroffen wurden und wer daran beteiligt war." Familien hätten ein Recht auf Antworten.
Das kurze Zeitfenster für die Wahrheit ergab 2500 Anhörungen - ein Anstoß zur Bildung einer versöhnten Nation, das war ihr Zweck. "Wir hatten damals Hoffnung, denn es ging um den Prozess des Wiederaufbaus des Landes, der Friedenskonsolidierung. Wir wollten Teil des Wandels sein", sagt Nomarussia Bonase, Koordinatorin von Khulumani, zur DW. "Von der jetzigen Regierung werden wir wieder zum Opfer gemacht."
Justizminister Ronald Lamola sieht keinen Grund für die Menschen, am Constitution Hill zu sitzen. Sie sollten nach Hause gehen, sagt er. "Das Parlament hat die Liste, sie ist geschlossen. Und es wäre eine Unregelmäßigkeit, wenn wir die Liste wieder öffnen würden."
Mitarbeit: Dianne Hawker