Automarkt ächzt unter Chipmangel
15. Oktober 2021Es geht weiter bergab bei den Neuzulassungen in der Europäischen Union. Nach dem Einbruch in den Sommermonaten lag das Minus im Vergleich zum Vorjahr nun bei 23,1 Prozent. Das teilte der europäische Herstellerverband Acea mit.
Insgesamt meldeten europäische Autofahrer knapp 720.000 Autos an. Das sei der niedrigste September-Wert seit 1995. Von Januar bis September zählte Acea aber noch ein Plus von 6,6 Prozent auf 7,5 Millionen Fahrzeuge gegenüber dem von der Corona-Pandemie belasteten Vorjahreszeitraum. Der Absatz liegt damit fast ein Viertel unter dem des Jahres 2019. "Die Hoffnung, dass der EU-Neuwagenmarkt sich im Laufe des Jahres 2021 vom Krisenjahr 2020 erholen kann, war verfrüht", erklärte Peter Fuß, Autoexperte der Unternehmensberatung EY. Er rechnet für das Gesamtjahr mit einem Absatz auf dem niedrigen Vorjahresniveau. Die Branche steht neben der Transformation zu mehr E-Mobilität vor massiven Herausforderungen.
Vom Hoffnungsjahr zum Krisenjahr
Vor allem die Lieferprobleme bei Computerchips und anderen Teilen bremsen die Autoproduktion und damit das Angebot. "Die Nachfrage ist zwar groß, aber die Industrie kann sie nicht bedienen”, beschreibt Fuß die Lage. Die Autobauer steuern dagegen, indem sie sich auf die profitabelsten Modelle konzentrieren und weniger Rabatt geben. Dennoch sei wegen der mittlerweile massiven Produktionsausfälle mit erheblichen Umatzeinbußen zu rechnen. "Der Branche stehen sehr schwierige Monate bevor", warnte der Experte. Erst Mitte nächsten Jahres sei eine spürbare Entspannung der Lage zu erwarten.
Anfang Oktober hatte auch die Strategieberatung Boston Consulting Group gewarnt: Allein in diesem Jahr könnten bis zu elf Millionen Fahrzeuge nicht produziert werden. Auch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PWC kommt zu diesem Ergebnis. Als Grund werden auch hier der Mangel an Halbleitern und Stahl genannt.
Eine Krise für die Zulieferer
Die Beratungsfirma Alix Partners schätzt, dass wegen fehlender Chips der Autobranche in diesem Jahr Einnahmen von umgerechnet rund 179 Milliarden Euro entgehen. Der Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) hat seine Prognose für 2021 bereits drastisch reduziert. Demnach wird die Autoproduktion in Deutschland in diesem Jahr um 18 Prozent auf nur noch 2,9 Millionen Fahrzeuge zurückgehen. Ursprünglich hatte der VDA für 2021 mit einem Aufschwung der Produktion von drei Prozent gegenüber 2020 gerechnet. Mit der jetzt prognostizierten Zahl neuer Autos fällt Deutschland wieder zurück auf den Wert des Jahres 1975, der geprägt war von der damaligen Ölkrise. Eine Reduzierung der Produktion um 18 Prozent ist in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Autoindustrie der fünfgrößte Einbruch. Nur in den Krisenjahren 2020, 1993, 1973 und 1967 war die Entwicklung noch ein wenig ungünstiger.
Die Krise bekommen vor allem die kleinen Zulieferbetriebe zu spüren. So sind in Deutschland bereits die ersten zahlungsunfähig. So zum Beispiel die Bolta-Werke. Ende September hat der fränkische Autozulieferer mit 1000 Mitarbeitern mit Verweis auf die Chipkrise und nicht abgerufene Bestellungen der Autobauer einen Antrag auf die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt. Die gleiche Begründung führt der westfälische Zulieferer Heinze an, der ebenfalls seit Ende September zahlungsunfähig ist. Weltweit aktive Zulieferer wie Hella oder Faurecia haben ihre Geschäftsprognosen drastisch reduziert
Bei den großen Automobilherstellern sieht das Bild gemischt aus. Laut einer Studie der Nord LB sind vor allem Tesla, BMW und zunächst auch Toyota bisher besser durch die Chip-Krise gekommen.
Strukturelle Probleme
Die Autobranche wird besonders schwer von den Halbleiter-Engpässen getroffen. Ein Grund ist, dass die Geschäfte mit ihr wegen relativ niedriger Stückzahlen für die Chipkonzerne weniger lukrativ sind als beim Verkauf an große Elektronikkonzerne. Viele Autohersteller hatten zu Beginn der Pandemie zudem selbst Nachfrageeinbrüche - in der Folge stornierten sie bereits zugesagte Mengen bei den Halbleiterfirmen. Jetzt, wo das Autogeschäft wieder besser läuft, fehlen diese Chips. Es sei ernüchternd zu sehen, dass sich selbst die Experten der Konzerne bei der Planung völlig verkalkuliert haben, schreibt Nord-LB-Analyst Frank Schwope. Er sieht eine nachhaltige Erholung womöglich erst im übernächsten Jahr.
Auslöser der Halbleiter-Knappheit war unter anderem die erhöhte Nachfrage nach Notebooks und anderen Elektronikprodukten in der Corona-Krise. Aber auch generell braucht jede Industrie immer mehr Chips. Erschwerend kam hinzu, dass Chiphersteller in den vergangenen Jahren ihre Kapazitäten bei einigen Halbleiter-Arten angesichts zunächst schwacher Nachfrage zurückgefahren hatten und diese jetzt nicht wieder schnell aufstocken können.
Der Chip-Mangel bremst auch den Markthochlauf der neuen Elektroauto-Modelle. Dennoch wächst dank staatlicher Kaufanreize ihr Marktanteil. In den fünf größten Automärkten Westeuropas war gut jedes fünfte Neufahrzeug im September nach Angaben der Beratungsfirma EY ein reines E-Auto oder Plug-in-Hybrid. Erstmals seien in Deutschland mehr Elektroautos als neue Diesel-Fahrzeuge auf die Straße gekommen. "Der Diesel wird zunehmend zu einer Randerscheinung auf dem Automarkt", so EY-Autoexperte Fuß.
nm/hb (dpa, afp,rtr, Archiv)