Autonomie der Literatur
11. September 2002Der britische Erfolgsautor Ken Follett erklärte in diesen Tagen, dass er die Terroranschläge des 11. September für kein Romanthema hält. Folletts Bücher sind in Deutschland 16 Millionen Mal verkauft wurden.
Schluss mit lustig?
Tatsächlich gab es kurz nach den Anschlägen im vergangenen Jahr eine Debatte im deutschen Feuilleton, ob sich denn jetzt auch die Literatur ändern müsse, ob nicht überhaupt Schluss sein müsse mit Spaßkultur und Popliteratur. Frank Schirrmacher, Herausgeber der überregionalen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", prophezeite: "Das Selbstbild wird sich verwandeln. Filme und Bücher werden sich jetzt ändern, die Kultur selbst."
Schirrmacher erntete bald heftigen Widerspruch. Auch von Michael Lentz, Ingeborg-Bachmann-Preisträger und Lautpoet. "Man muss nicht wie Schirrmacher daherkommen, der darüber befindet, dass nach dem 11. September nichts mehr sein wird wie es war. Wann gab es ein solch starkes Diktum schon mal? Das war nach Auschwitz. Nach Auschwitz kann man keine Gedichte mehr schreiben, sagte Adorno. Was Schirrmacher sagt heißt, dass nach dem 11. September kann man nicht mehr so schreiben, wie vor dem 11. September".
Ende der Leichtigkeit
Man könne nicht per Verordnung in den Produktionsprozess von Literatur eingreifen, meint Lentz und er verteidigt damit die Autonomie der Literatur. Für möglich hält er es allerdings, dass sich durch die Anschläge eine gewisse Leichtigkeit erledigt haben könnte. Das sieht auch der Hamburger Schriftsteller Matthias Politycki so: "Wir haben durch die neue deutsche Lesbarkeit leider auch schon etwas losgetreten, was unter dem Namen Popliteratur ein paar Jahre lang sein Unwesen getrieben hat. Und es ist nur fair, dass jetzt aus eigentlich einem falschen Mechanismus heraus, einem bloßen Vorwand heraus, 11. September, diesen Auswüchsen der Garaus gemacht wird".
Keine Veränderung
Abgesehen von schweren Zeiten für die Popliteratur glaubt indes kaum ein Schriftsteller an eine nachhaltige Veränderung der Literatur, nicht einmal Kathrin Röggla, die den Anschlag auf das World Trade Center als Augenzeugin erlebt hat. Den bisher erschienenen Büchern, in denen der 11. September eine Rolle spielt, lassen sich Veränderungen auch nicht entnehmen.
Das New Yorker Internet-Tagebuch von Else Buschheuer www.elsebuschheuer.de und der Briefroman "Inzest oder die Entstehung der Welt" von Barbara Bongartz und Alban Nikolai Herbst enttäuschen vielmehr in ihrer Ratlosigkeit und Ignoranz: "Selbstverständlich leben lieben und vögeln wir weiter und kämpfen" heißt es bei Bongartz und Herbst. Kathrin Röggla dagegen versucht in ihren New Yorker Aufzeichnungen "really ground zero" den Schock zu überwinden und den Überblick zurückzugewinnen - ein klassisches, kein neues Mittel der Schockbearbeitung.
Reaktionen kommen erst später
Wenn es also Veränderungen geben sollte, werden sie wohl erst in Jahren sichtbar. Literarische Einbildungskraft braucht Zeit. Lothar Müller, Literaturredakteur der "Süddeutschen Zeitung", ist eher gespannt auf Romane, die in fünf, sechs Jahren erscheinen, in denen das Ereignis beide Seiten hat. "Diese unmittelbare Schockseite, die in der Erlebnisqualität der Einzelnen wurzelt, und der Formenreichtum, der sich so langsam darum legt und auch ein bisschen so einschließt wie eine Muschel".