Bahnstreik in Deutschland: Eine Milliarde Euro Schaden?
Veröffentlicht 9. Januar 2024Zuletzt aktualisiert 23. Januar 2024Der Tarifkonflikt zwischen der Deutschen Bahn (DB) und der Lokführergewerkschaft GDL geht in die nächste Runde. Die GDL rief diesen Montag zum erneuten Streik auf, nachdem sie erst Anfang Januar über drei Tage vieles auf der Schiene lahm gelegt hatte. Diesmal ist der Personenverkehr von Mittwochfrüh (24.1. ab 02:00 Uhr MEZ) bis Montagabend betroffen. Das sind fast sechs Tage - somit der bislang längste Streik in der Bahn-Geschichte. Im Güterverkehr soll der Streik bereits am Dienstagabend beginnen und ebenfalls am Montag um 18.00 Uhr enden. Das wären 144 Stunden.
Der Streik trifft nicht nur die Deutsche Bahn selbst. Den Stillstand werden ebenso viele Unternehmen in Deutschland zu spüren bekommen, die ihre Rohstoffe oder Güter mit der Bahn transportieren.
Darüber hinaus werden sich die Folgen auch in den Nachbarländern zeigen , denn fast 60 Prozent der Verkehrsleistungen der Deutschen Bahn im Güterverkehr werden europaweit erbracht. Durch Deutschland verlaufen sechs der elf Korridore des Güterverkehrs in Europa, heißt es vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr. "Deutschland ist das logistische Herz Europas," sagt auch Thomas Puls vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW).
Kosten des Bahnstreiks sind schwer zu beziffern
Was so ein Streik an Kosten verursacht, sei schwer einzuschätzen. Wenn es nicht zu Produktionsausfällen komme, würden die Kosten in keiner Statistik ablesbar sein, sagt Puls. Wenn allerdings die Produktion eingeschränkt werden muss oder ganz zum Erliegen kommt, könnten Schäden von bis zu 100 Millionen Euro pro Tag entstehen, so der Konjunkturchef des IW, Michael Grömling. Bei der nun angekündigten Streikdauer von sechs Tagen würden zudem die Kosten nicht mehr linear steigen, sondern sich teils multiplizieren. "Wir sind da schnell bei einer Milliarde Euro Schaden", so Grömling.
Zudem wird der Güterverkehr wahrscheinlich auch nach Ende des Streiks nicht sofort reibungslos verlaufen. Nach dem letzten Streiks im Güterverkehr dauerte es Tage, bis sich die Staus aufgelöst hatten. Die Deutsche Bahn selbst kalkuliert mit etwa 25 Millionen Euro Verlust pro Tag allein für ihr Unternehmen.
Ähnlich schätzt das Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer ein. Durch den Streik dürfte die Wertschöpfung im Transportsektor pro Tag zwar schätzungsweise nur um 30 Millionen Euro sinken, was lediglich 0,3 Prozent des täglichen Bruttoinlandsprodukts entspreche. "Viel größere wirtschaftliche Schäden entständen, wenn Fabriken ihre Produktion wegen Nachschubproblemen runterfahren müssten", warnte Krämer. "Außerdem strapaziert der Bahnstreik die Nerven der Bürger und kratzt am ohnehin angeschlagenen Image des Wirtschaftsstandorts Deutschland."
Schwer wiegen natürlich auch der Vertrauensverlust der Logistiker in den Schienengüterverkehr, so Frank Huster, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Spedition und Logistik. Dessen Ruf leide ohnehin schon massiv durch die immer wiederkehrenden technischen Störungen, durch ein extrem marodes Schienennetz und anhaltende Infrastrukturschwächen. Keine gute Ausgangslage für das Ziel, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. Laut Koalitionsvertrag 2021 soll der Anteil der Schiene am Verkehr in Deutschland bis 2030 auf 25 Prozent steigen. Derzeit liegt er bei 19 Prozent.
Güterverkehr auf der Schiene ist wichtig
Um das Ausmaß des Bahnstreiks abzuschätzen, lohnt sich ein Blick darauf, wie viele Güter überhaupt mit der Bahn befördert werden. Ein Großteil, nämlich zwei Drittel, werden in Deutschland gar nicht über die Schiene, sondern über die Straße transportiert und nur knapp ein Fünftel per Bahn. Trotzdem sei der Schienengüterverkehr sehr wichtig, sagt IW-Verkehrsexperte Puls der DW. "Auch wenn es beim Blick auf die Marktanteile gar nicht so deutlich wird, aber viele der Transporte auf der Schiene können gar nicht anders oder nur schwer über andere Wege abgewickelt werden."
Auf solche Transporte sind beispielsweise die großen Industrien, etwa die Stahl- oder Chemiebranche, angewiesen. Ohne die Steinkohle, die von der Bahn angeliefert wird, laufen weder die Hochöfen der Stahlindustrie noch Kraftwerke, die Strom produzieren.
Für einige Gefahrgüter, die für die Chemiebranche transportiert werden, ist der Weg über die Schiene wegen des geringeren Unfallrisikos in Zügen sogar vorgeschrieben. Insofern sei der Ausstand für die Chemieindustrie eine große Herausforderung, wie der Verband der Chemischen Industrie (VCI). "Mit ihren Kunden und Logistikdienstleistern haben die Unternehmen umgehend flexible Lösungen entwickelt", hieß es. "Diese können die Einschränkungen und Verzögerungen in der Bahnlogistik aber nur teilweise kompensieren."
Autoindustrie vom Bahnstreik mit betroffen
Auch Produkte für die Autoindustrie und fertige Fahrzeuge werden auf Züge verladen. Allein die ganzen Fahrzeuge, die in den Export gehen, würden mit Zügen nach Bremerhaven zur Verladung auf Autoschiffe gebracht, so Puls. Und wenn die Züge ausfallen? Es gebe gar nicht so viele Autotransporter, um diese Pkw über die Straße zu transportieren.
Der Bahnstreik belaste die Transportlogistik in Deutschland und Europa und damit auch Unternehmen der deutschen Automobilindustrie, heißt es daher vom Verband der Automobilindustrie (VDA). Zwar reagierten die Unternehmen und stellten, wo möglich, Liefer- und Logistikketten um. "Allerdings ist eine kurzfristige Verlagerung von der Schiene auf die Straße außerordentlich schwierig", hieß es. Schon in den vergangenen Jahren hätten viele Unternehmen in der Branche ihre Transporte auf die Straße verlagert. "Dadurch sind dies bezügliche Potenziale weitestgehend ausgeschöpft." Mit der Bahn würden vor allem Fertigfahrzeuge transportiert, teilte der VDA weiter mit.
Der Bahn zufolge wird es bei diesem Streik im Schienengüterverkehr zu erheblichen Einschränkungen für Industrie und Wirtschaft kommen, obwohl die DB Cargo in Abstimmung mit den Kunden alles dafür tun werde, um versorgungsrelevante Güterzüge ans Ziel zu bringen.
Andere Verkehrswege profitieren - vielleicht
Beim Güterverkehr auf der Schiene ist die Deutsche Bahn zwar der größte Anbieter mit einem Marktanteil von etwa 40 Prozent, aber es gibt daneben viele privaten Anbieter, die die größere Hälfte der Verkehrsleistung abdecken. Sie werden nicht direkt bestreikt.
"60 Prozent des Schienengüterverkehrs rollen wie üblich und kommen wegen eines entleerten Netzes sogar häufig besser ans Ziel", teilte Peter Westenberger mit. Er ist Geschäftsführer des Verbands Die Güterbahnen, in dem vor allem die Wettbewerber von DB Cargo organisiert sind. Die privaten Unternehmen nähmen vereinzelt auch Waren auf, die DB Cargo aufgrund des Streiks nicht transportieren könne.
Wenn allerdings auch die Stellwerker der Bahn streiken, dann gehe gar nichts mehr. Dann gebe es auch keine Notfallfahrten mehr, so der Verkehrsexperte Puls. "Ohne die zentrale Verkehrssteuerung fährt kein Zug."
Containerstaus in Häfen befürchtet
Vom Streik betroffen sind neben den Bahn-Wettbewerbern auch andere Teile der Logistikkette, wie die Häfen. "Wenn die Häfen keine Stellflächen für Container mehr haben, wird es wirklich problematisch," glaubt Puls. Beim Hamburger Hafen würde die Masse der Container per Bahn weitertransportiert werden. Das Ganze auf die Straße zu verlagern sei nicht realistisch, meint Puls. "Wir haben wahrscheinlich gar nicht so viele Lkw, und wenn wir sie hätten, könnten wir so viele gar nicht nach Hamburg reinschicken, um diese Mengen an Containern aus dem Hafen herauszuholen, die die Bahn rausfährt."
Konjunkturelle Lage entschärft die Situation etwas
Allerdings hilft die derzeit schleppende Konjunktur dabei, die Streikfolgen zu mildern. Wenn die Industrieproduktion schwach ausgelastet sei, sei es leichter, die Produktionen zeitlich zu verschieben, wenn Güter nicht rechtzeitig geliefert würden, so Puls. Kosten für die Umplanung der Produktion und der Logistikketten würden natürlich trotzdem anfallen.
Ganz unvorbereitet sind die großen Unternehmen zudem nicht und auch das dürfte die Streikfolgen abmildern. Insgesamt seien die Lieferketten nach der Corona-Pandemie resilienter geworden, meint Huster. Auch ohne Streik sei es nicht unüblich, dass ein Güterzug mal einen Tag zu spät komme, so Huster. Insofern hätte die Industrie gewisse Puffer und habe Lager für Notfälle aufgebaut.
Auch die Situation in den Häfen dürfte wegen der konjunkturellen Lage nicht ganz so schnell kritische Ausmaße erreichen. "Unter besseren konjunkturellen Bedingungen ist die Schmerzgrenze, wenn die Bahnen nicht mehr fahren, bei etwa fünf Tagen erreicht", schätzt Puls.
"Es braut sich 'was zusammen"
Grömling vom IW Köln fürchtet allerdings mit Blick auf die Situation im Roten Meer: "Auch im Schiffsverkehr staut sich etwas auf". Wegen der wiederholten Angriffe der Huthi-Milizen würden viele Containerschiffe über die deutlich längere Strecke über das Kap der Guten Hoffnung umgeleitet. Die Folge seien erhebliche Zeitverzögerungen und Probleme in den Häfen. Dazu komme auch noch die bis 4. Februar dauernde Sperrung der wichtigen Rheinbrücke in Leverkusen, durch die der Lkw-Verkehr massiv behindert werde.
"Es braut sich etwas zusammen", fasst Grömling die Lage zusammen. "Die Folge werden gestörte Lieferketten und erhöhte Unsicherheit sein." Die deutsche Wirtschaft befinde sich bereits in einer Rezession. "Die droht sich nun zu verschärfen", sagte der IW-Konjunkturchef.
Auch der Unternehmerverband Baden-Württemberg (UBW) zeigte sich besorgt: "In einer Zeit, in der wir uns ohnehin um die wirtschaftliche Entwicklung und um den sozialen Frieden in unserem Land Sorgen machen müssen, legt die GDL hier zusätzlich Feuer an die Lunte. Die Unternehmer aus Berlin und Brandenburg äußerten sich ähnlich und warnten vor einer weiteren Konjunkturbremse: "Fast eine ganze Woche ohne Güterverkehr auf der Schiene bedeutet für viele Unternehmen einen echten Schlag ins Kontor."
Der Artikel ist am 9. Januar 2024 erstmals erschienen und wurde am 23. Januar aktualisiert.