1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Barbaren" gegen "Antichristen"

Marc von Lüpke-Schwarz26. Juni 2014

1914 zogen Deutsche und Russen in den Krieg. In der russischen Propaganda wurde der Konflikt zum biblischen Kampf von Gut gegen Böse. Die Deutschen dagegen glaubten, sich gegen eine "asiatische Gefahr" zu wehren.

https://p.dw.com/p/1CPwX
Krieg der Propaganda The Great European War, 1915
Russisches Propagandaplakat von 1915Bild: Ullstein/Heritage Images/Fine Art Images

Ein gewaltiger Kampf spielt sich am Himmel Russlands ab. Mit Schwert und Schild zieht der in Russland hoch verehrte heilige Georg auf seinem Streitross gegen einen furchtbaren Drachen zu Felde. Doch besitzt das Ungeheuer auf diesem russischen Propagandaplakat aus dem Jahr 1915 gleich drei Köpfe. Und diese, wie sollte es anders sein, symbolisieren die drei Gegner Russlands im Ersten Weltkrieg: Deutschland, erkennbar an der Pickelhaube, das Osmanische Reich mit dem charakteristischen Fes auf dem Kopf, und zuletzt, bereits enthauptet, Österreich-Ungarn, gekennzeichnet durch die Barttracht des österreichischen Monarchen Franz Joseph I. Dass der heilige Georg für eine gute und gerechte Sache kämpft, verdeutlicht auch die übrige Szenerie: Überall herrscht Dunkelheit, doch Georg, sprich Russland, kämpft mit dem Licht der Gerechtigkeit im Rücken gegen die Mächte der Finsternis wie Deutschland.

Sturm auf die Botschaft

Tatsächlich meinten viele Russen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, für die gerechte Sache zu streiten. Am 1. August 1914 hatte das Deutsche Reich Russland den Krieg erklärt. Am 4. August kochten die Emotionen in Russland besonders hoch: Ein zorniger Mob drang an diesem Tag in die deutsche Botschaft in St. Petersburg ein und verwüstete die Einrichtung. Demonstrativ hissten die Eindringlinge die russische Fahne auf dem Gebäude. Zugleich zogen Zigtausende auf Demonstrationszügen durch Moskau und protestierten gegen Deutschland.

Erster Weltkrieg Propaganda Russland antideutsche Karikatur - Krieg der Propaganda Russland
Voller Siegesgewissheit zeigt dieses russische Plakat, dass die russischen Truppen bald Berlin erobern werdenBild: picture-alliance/akg-images

Den endgültigen Bruch mit dem Deutschen Reich markierte dann die Umbenennung der Hauptstadt des Russischen Reichs: aus dem deutschen St. Petersburg wurde Petrograd. Mäßigende Stimmen gab es kaum. Einer der wenigen Mahner war der Schriftsteller Leonid Andrejew: Für ihn waren die Deutschen "Menschen genau wie wir". Und darüber hinaus fürchten sie "uns wahrscheinlich nicht mehr und nicht weniger als wir sie."

Der "germanische Antichrist"

Genau dies jedoch – die Menschlichkeit – sprachen sich die beiden kriegsführenden Parteien in ihrer Propaganda gegenseitig ab. Ein russisches Propagandaplakat von 1914 zeigt Wilhelm II., wie er auf einem wilden Eber galoppierend in Russland einfällt. Mit dämonischem Lächeln schwingt er sein Schwert, während deutsche Wölfe mit Pickelhauben eine wehrlose Ziege reißen. Darunter steht der Titel des Plakats: Der "germanische Antichrist". Den tiefgläubigen russischen Soldaten sollte auf diese Art deutlich gemacht werden: Ihr kämpft nicht nur gegen einen Feind, sondern gegen das Böse, den Antichristen an sich. Und die Kräfte des Guten, wie beispielsweise der in Russland verehrte heilige Georg, stünden in diesem Kampf auf ihrer Seite.

Die deutsche Propaganda erkor den Krieg gegen Russland dagegen zum Kampf von Germanen gegen Slawen. Das gewaltige Russische Reich mit seiner großen Bevölkerung, aus dem einst die Reiterheere der Mongolen gegen Europa aufgebrochen waren, erschien vielen Deutschen bis ins 20. Jahrhundert hinein als unberechenbar, fremd und gefährlich. Selbst der deutsche Kaiser teilte die tiefe Abneigung gegen alles Slawische. "Ich hasse die Slawen", meinte Wilhelm II.

Krieg der Propaganda Russland russische Gefangene
Russische Kriegsgefangene werden1915 in Galizien von einem Deutschen eskortiertBild: Imago

Von Verbündeten zu Feinden

Dabei waren es die Russen, die einst Preußen von der Herrschaft Napoleon Bonapartes befreit hatten. Nach verheerenden Niederlagen hatte der französische Kaiser 1806 Berlin besetzt – und Preußen zu einem Satellitenstaat degradiert. Erst mit der Unterstützung russischer Truppen konnte sich Preußen befreien. Mit der Völkerschlacht bei Leipzig im Jahr 1813 endete die französische Herrschaft über Deutschland. Anschließend gründeten Russland, Preußen und Österreich die Heilige Allianz, um die Ordnung Europas nach dem Wiener Kongress zu garantieren.

Spätere Bündnisse wie der Dreikaiserbund von 1881 und auch der geheime deutsch-russische Rückversicherungsvertrag von 1887 banden die beiden Staaten weiterhin aneinander. Doch 1890 ließ der neue Kaiser Wilhelm II. den Rückversicherungsvertrag auslaufen – und Russland näherte sich dem Deutschland feindlich gesinnten Frankreich an.

Die russischen "Barbaren"

Am 15. August 1914 überschritt schließlich eine russische Armee die Grenze der preußischen Provinz Ostpreußen. Südlich der Stadt Allenstein besiegten die Deutschen die russischen Angreifer Ende August – und benannten den Kampf als "Schlacht von Tannenberg". 1410 hatte bei Tannenberg eine polnisch-litauische Koalition den Deutschen Orden besiegt. Mit der Tannenberg-Schlacht von 1914 glaubten die Deutschen, diese symbolisch aufgeladene Niederlage nun gegen die Russen ausgewetzt zu haben.

Krieg der Propaganda Russland russische Gefangene
1914 machte die Schlacht bei Tannenberg den Generalfeldmarschall von Hindenburg zum Helden. Hitler missbrauchte dies erneut propagandistisch und setzte ihm bei seinem Tod ein Denkmal.Bild: Imago

Zudem galt die Tannenberg-Schlacht als Beleg für die deutsche Überlegenheit über die russischen "Barbaren", so die gängige Charakterisierung in der deutschen Propaganda. "Hier laust sich der Vater, hier laust sich das Kind, hier laust sich der Herr, hier laust sich‘s Gesind, ich als Quartiergast sitz‘ in der Mitt‘, erst schau‘ ich zu, dann laus‘ ich mit", verhöhnte eine deutsche Propagandapostkarte die angeblich mangelnde Hygiene der Russen. "Russische Kultur", lautete die zynische Unterschrift.

Die Russen als Volk unterentwickelter Barbaren – dieses Vorurteil sollte die deutsche Propaganda noch bis weit über das Ende des Ersten Weltkriegs hinaus prägen. Bis zum März 1918 bekämpften sich beide Nationen im Ersten Weltkrieg – und bereits 1940 zogen sie erneut gegeneinander in den Krieg. Diesmal führte das nationalsozialistische Deutschland einen grausamen Rasse- und Vernichtungskrieg gegen die angeblichen "slawischen Untermenschen" in der Sowjetunion. Die Propaganda hatte fatale Folgen.