Bataclan: Erinnerungen an einen Albtraum
13. November 2020Die Liebe zur Musik hat Serge Maestracci am 13. November 2015 in der Pariser Konzerthalle Bataclan fast das Leben gekostet. Doch sie war in der Zeit nach den Anschlägen zugleich sein Rettungsanker.
Der heute 66-jährige Maler und Musiker hatte kurz vor dem Anschlag angefangen, Lieder zu schreiben. Seitdem probt er regelmäßig mit seiner Band "Mon Pote Serge" in einem Studio in Saint-Ouen, einem nördlichen Vorort von Paris. In ihrem Repertoire ist auch ein Song mit dem Titel "Bataclan". Dieser erzählt davon, wie schwierig es für Maestraccis Sohn war, am Abend des Anschlags einzuschlafen.
Leben mit und durch Musik
"Die Musik hat mir geholfen, durch die schlimmste Zeit meines Lebens zu kommen", sagt Maestracci. Wie andere Überlebende hat er seine ganz eigene Art gefunden, mit dem Trauma umzugehen. Auch wenn der Schmerz wohl für immer Teil seines Lebens bleiben wird.
"Ich war komplett panisch geworden. Ich hatte Angst, das Haus zu verlassen und durch die Stadt zu radeln. Ich hatte das Gefühl, ich wäre zur Zielscheibe geworden", meint er. "Durch die Musik konnte ich meine Gefühle, und was ich erlebt hatte, ausdrücken."
"Nach so einem Erlebnis - und gerade, weil ich kurz nach der Attacke fliehen konnte - wird Dir bewusst, dass Du nur aufgrund weniger Minuten dem Tod entkommen bist. Das Leben kommt zum Stillstand. Und dann geht es auf einmal weiter. Und Dir wird klar - Du musst jede Minute ausnutzen!"
Terror als nationales Trauma
Am 13. November 2015 töteten Terroristen 130 Menschen durch Anschläge und Selbstmordattentate an mehreren Orten in Paris. 90 Terror-Opfer starben im Bataclan, während eines Konzerts der Rockband Eagles of Death Metal.
Und das waren nicht die einzigen Terroranschläge, die Frankreich in den vergangenen Jahren getroffen haben. Seit 2015 haben Terroristen mehr als 250 Menschen im Land ermordet und bei Tausenden überlebenden Opfern langfristige physische und psychische Wunden verursacht.
Sergio Maestracci drückt seine Gefühle nicht nur durch die Musik aus, er hat auch die Malerei für sich entdeckt. In dem Pariser Vorort Colombes, acht Kilometer westlich von Saint-Ouen, hat er sein Atelier. In dem kleinen Apartment steht eine Staffelei, Farbtuben liegen auf einem Holztisch, Ölgemälde hängen an der Wand.
"Beim Malen denke ich an nichts anderes, es schneidet mich komplett von der Außenwelt ab", sagt er. "Manchmal male ich den ganzen Tag und auf einmal, wenn ich hochgucke, ist es dunkel. Dadurch vergeht die Zeit schneller - und Zeit heilt alle Wunden. Langsam, aber sicher verblasst so die Erinnerung an diesen Albtraum."
Nach dem Anschlag zeichnete Maestraccis auf einmal keine lebendigen Szenen mehr, sondern Landschaftsmotive. "Ich wollte die ruhigen Momente festhalten, für die es sich zu leben lohnt. Auch, um mich von dem Attentat zu entfernen", sagt er.
Nur ein Bild, das kurz nach der Attacke entstand, ist anders: Es zeigt eine französische Flagge, auf der die rote Farbe nach unten verläuft. So, als ob Frankreich blutet.
Ausharren in der Abstellkammer
Kurz nachdem die ersten Schüsse fielen, schaffte Maestracci es damals, sich durch einen Seitenausgang des Bataclans auf die Straße zu retten. Für andere war das Grauen in der Konzerthalle damit noch lange nicht vorbei - so wie für Christophe Naudin. Während die drei Attentäter Hunderte Menschen im Saal als Geiseln hielten, versteckte er sich stundenlang mit zwei Dutzend Menschen eingequetscht in einer Abstellkammer des Bataclans.
Um dieses Trauma besser bewältigen zu können, veröffentlichte er vor kurzem ein Buch mit dem Titel "Tagebuch eines Überlebenden des Bataclans". Es beschreibt, wie Naudin während des ersten Jahres viel ausging und Leute traf. Wenn er alleine zu Hause war, kamen die Erinnerungen dann allerdings mit voller Wucht.
In einer zweiten Phase schaffte er es, sich ein bisschen mehr von dem Erlebten zu distanzieren. Und schließlich, seit dem dritten Jahr nach dem Anschlag, berührt ihn alles, was Terroranschläge angeht, weniger stark. Auch, weil er von da an mit seiner jetzigen Freundin Laetitia zusammen war.
Aufschreiben statt grübeln
"Es hat mir wirklich geholfen, meine Gedanken aufzuschreiben, anstatt nur darüber zu grübeln, was mir passiert ist", sagt Naudin. "Und es tat mir auch gut, das alles noch mal durchzulesen, um es in die nötige Form für mein Buch zu bringen. All das ist Teil meiner Rekonstruktion."
Mit jedem neuen Anschlag allerdings kehrten die Symptome zurück. Naudin hat immer noch posttraumatische Symptome wie Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. Doch nicht mehr ganz so schlimm wie in der ersten Zeit nach dem Anschlag.
Außer, wenn es zu neuen Terroranschlägen kommt. Wie vor Kurzem, als ein radikal-islamistischer Angreifer den 47-jährigen Geschichtslehrer Samuel Paty brutal ermordete, nur weil dieser seinen Schülern im Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit eine Karikatur des Propheten Mohammed gezeigt hatte.
Der Cartoon stammte aus dem Satiremagazin "Charlie Hebdo", dessen Redaktion im Januar 2015 Ziel eines Attentats war, bei dem zwölf Menschen zu Tode kamen. Ein Prozess, bei dem mögliche Helfer der Attentäter auf der Anklagebank sitzen, ist seit Anfang September im Gange. Die Täter selbst hatte die Polizei auf der Flucht getötet.
Erneut Kontrolle gewinnen
Naudin identifiziert sich mit Paty. Er ist selbst Geschichtslehrer und etwa gleichen Alters. "Wir lagen in etwa auf einer Linie, was die Art des Unterrichtens angeht. Die Nachricht von diesem Anschlag hat mich und meine Freundin, die auch Lehrerin ist, wirklich umgehauen."
Posttraumatische Symptome halten lange an, weiß der Psychologe Laurent Tigrane Tovmassian. Er ist Leiter der Abteilung für psychotraumatische Störungen am Zentrum für psychische Krankheiten Chapelle aux Champs an der Universität UCL in der belgischen Hauptstadt Brüssel. Und er hat einige der Überlebenden der Anschläge vom November 2015 behandelt.
"Der Akt des Schreibens hilft Menschen, sich das Erlebte wieder anzueignen. Dadurch können sie den nötigen Abstand zu den Dingen bekommen und fühlen sich den Ereignissen nicht mehr hilflos ausgesetzt", so Tovmassian.
"Und Malen und Musizieren verbindet sie wieder mit ihrer Kreativität". Das sei wichtig, weil Opfer durch ein Trauma von ihrer Kreativität, ihren Zukunftsprojekten und Träumen abgeschnitten würden.
"In die Lebensgeschichte einbauen"
Dennoch hält Tovmassian es für unmöglich, so ein traumatisches Erlebnis komplett zu vergessen. "Man kann das nicht einfach aus der Erinnerung löschen", sagt er. "Der einzige Weg nach vorne ist, das Geschehene zu akzeptieren und irgendwie in seine Lebensgeschichte einzubauen. Dann kann man eventuell sogar irgendwann sagen 'was uns nicht tötet, macht uns stärker'."
Für Serge Maestracci jedenfalls werden Musik und Malerei auch weiterhin fester Bestandteil seines Lebens bleiben. Damit seine Wunden weiter heilen - aber auch aus einem anderen Grund: "Radikale Islamisten würden uns gerne verbieten, zu malen, Musik zu machen und zu singen. Denn das darf laut ihnen nur der Prophet", sagt er. "Meine Musik ist meine Art zu sagen: 'Nein! Ich existiere, ich bin noch am Leben!'."