Bayreuth am Scheideweg
28. Juli 2014Eine Kaskade von Buhs entlud sich beim Bayreuther Publikum nach der Aufführung von "Siegfried". Sie galt wohl Frank Castorfs Inszenierung der "Ring"-Tetralogie, obwohl der Regisseur nicht persönlich vor den Vorhang getreten war.
In Bayreuth gehören Buh-Rufe nun fast zur "guten Sitte". "Ich habe noch nie ein Publikum erlebt mit so viel Hass, so viel Wut und so viel Rache", sagte der Tenor Lance Ryan. "Die nehmen alles sehr persönlich. Es macht ein bisschen Angst, und es ist einfach schrecklich." Castorf seinerseits zeigte sich im vergangenen Jahr davon unbeeindruckt. In der Woche vor dem Auftakt entfachte er in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" seinen eigenen Sturm. Er richtete wüste Beschimpfungen an die Festspielleitung, verglich Bayreuth mit der DDR und klagte, dass es Einschnitte in seine künstlerische Freiheit gäbe.
Nicht dass es für Regisseure in Bayreuth sittliche Verbote gäbe. Im "Siegfried" kommt es zu Oralsex, man sieht kopulierende Krokodile und hört einen lauten Kalaschnikow-Schuss; und im "Tannhäuser" wird die Heilige Elisabeth vergast. Wie sind solche Regie-Gags zu deuten? Haben sie überhaupt eine tiefere Bedeutung?
Rästelraten allerorten
Rätsel auf dem "Grünen Hügel", wo man nur hinschaut. Das ist nichts Neues, aber 2014 ist doch einiges anders: Am Eröffnungstag waren noch Eintrittskarten zu haben. Außerdem musste die Vorstellung wegen einer technischen Panne unterbrochen werden, erstmalig in der 138-jährigen Geschichte der Bayreuther Festspiele. Sowohl das Festspielhaus als auch Wagners einstiger Wohnsitz sind derzeit Baustellen. Eine der Festspielleiterinnen, Eva Wagner-Pasquier, scheidet aus und wird ab nächstem Jahr eine Beraterfunktion einnehmen. Die Geschäftsstruktur der Bayreuther wurde neu ausgehandelt. Und erstmals schritt Bundeskanzlerin Angela Merkel am Eröffnungstag nicht über den Roten Teppich. Sie erschien erst fünf Tage später – und rein privat – zur "Siegfried-Aufführung", darüber hinaus scheinbar im gleichen blauen Zweiteiler wie 2013. Hat das eine symbolische Bedeutung? Bayreuth-Dämmerung allerorten?
Reformierte Kartenvergabepraxis
Die Fehlfunktion der Technik beruhte auf einen Softwarefehler, wie später zu erfahren war. Aber: "The show must go on". Trotz Unterbrechung, trotz berechtigter Sorge um die Sicherheit der Sänger und Statisten und trotz des hässlichen Bühnenbilds war die Eröffnung mit "Tannhäuser" zumindest musikalisch ein Erfolg. Das passt zum langjährigen Gesamttrend in Bayreuth: Buhs für die Regie, Bravos für die Solisten und den Dirigenten.
Zum Thema Eintrittskarten: Die Preise wurden in diesem Jahr im Durchschnitt um 18 Prozent angehoben. So kostet ein Platz in der 25. Reihe jetzt 240 Euro, früher waren es 190. Vor drei Jahren hat der Bundesrechnungshof die von der öffentlichen Hand stark subventionierten Bayreuther Festspiele gezwungen, die Kartenvergabepraxis zu reformieren. So entfielen geschlossene Veranstaltungen für Gewerkschaftsmitglieder und bevorzugte Behandlung der Wagnerverbände. Ein Teilkontingent kam in den Onlineverkauf. Ein Wechsel zu einer "demokratischeren" Kartenvergabemethode wurde offensichtlich noch nicht ganz vollzogen, die Festspiele suchen nach der besten Lösung. Einige Vorstellungen sind dennoch Jahre im Voraus ausverkauft.
Streit um Castorf
Dann zum Vorsaison-Krach: Der "Ring-"Regisseur Frank Castorf beklagte unter anderem, dass ein Solist ausgetauscht wurde. Er hospitierte bei den Orchesterproben und mäkelte über den allzu gefälligen Schönklang. Das Ganze wirkte eher wie eine Posse. Im Ernst: Sollte man wirklich auf einen so exzellenten Dirigenten wie Kirill Petrenko einwirken, dass die Musik weniger schön wird, damit die von Castorf erwünschte und erstrebte "Anarchie" auf der Bühne nicht glattgebügelt wird? Man möchte es niemandem wünschen, aber hätte er sich darüber gefreut, wenn die technische Panne bei seiner Produktion passiert wäre?
Schutzhelme für die Festspielbesucher?
Das Festspielhaus, derzeit teilweise hinter einer Textilfassade versteckt, war von Richard Wagner einst als Provisorium gedacht. Dass es 138 Jahre später grundsaniert werden muss, lässt eher darüber staunen, dass dieses Weltkulturerbe überhaupt so lange gehalten hat. 30 Millionen Euro kostet die Maßnahme, die 2015 beginnt und 2020 fertig werden soll. Ein großer Teil der Mittel kommt aus öffentlicher Hand. Dadurch musste die Struktur der Bayreuther Festspiele GmbH neu ausgehandelt werden. Früher war Wolfgang Wagner der einzige Gesellschafter, jetzt besitzen Bund und Land die Mehrheit der Anteile; das bedeutet im Endeffekt, dass die Bayreuther Festspiele jetzt ein staatliches Theater sind. Was das für die Zukunft der Festspiele im Großen und Kleinen bedeutet, weiß derzeit niemand.
Unterhalb des Hügels, im Stadtzentrum, ist Villa Wahnfried, Richard Wagners ehemaliges Wohnhaus, nur noch ein entkernter Bau. Verschwunden ist seine plüschrote Bibliothek, ein für Wagnerianer bedrückender Anblick. Kaum zu glauben, dass die Baumaßnahmen in zwölf Monaten abgeschlossen sein sollen. Das Projekt ist ambitioniert: Es soll großzügig ausgebaute unterirdische Räume für das wichtigste Wagnerarchiv der Welt geben; Haus und Garten sollen so restauriert werden, wie sie zu Lebzeiten Richard und Cosima Wagners ausgesehen haben, und im neuen Museum ist eine ausführliche Behandlung des lange unter den Teppich gekehrten Themas "Bayreuth im Dritten Reich" geplant. Kostenpunkt: 20 Millionen Euro, auch hier zu einem großen Teil öffentlich finanziert.
Die kommenden Jahre
Mittlerweile hat die zukünftige Alleinchefin Katharina Wagner auf dem Hügel einen ausführlichen Plan für die kommenden Jahre vorgelegt. Zur Liste der zukünftigen Regisseure gehört der gefeierte Australier Barrie Kosky, ein Opern-Profi. Beobachter hoffen, dass es bei ihm weniger oberflächliche und abstoßende Bühnentricks geben wird. Neben dem für die Wagnerwelt so wichtigen Dirigenten Christian Thielemann werden ebenso angesagte Vertreter der Zunft wie Andris Nelsons und Philippe Jordan ihre Interpretationen vorlegen. Zu den Solisten gehören weiterhin die wichtigsten in diesem Fach: Lance Ryan, Catherine Foster, Eva-Maria Westbroek, Steven Gould – und vielleicht sogar Anna Netrebko.
Rick Fulker ist Chef des Musikteams in der DW und langjähriger Besucher der Bayreuther Festspiele.