Beethovens "Pastorale": ein kleiner Wegweiser
16. November 2017Vielversprechend war die Uraufführung der Sechsten Sinfonie gerade nicht. Sie kam am 22. Dezember 1808 im Theater in Wien zwischen 18.30 und 22.30 in Verbindung mit Beethovens Fünfter Sinfonie, seinem Vierten Klavierkonzert, einer Arie, zwei Teilen einer Messe – und obendrein der Chorfantasie zur Aufführung. "Dass man auch des Guten - und mehr noch - des Starken leicht zu viel haben kann" war die Erfahrung des Konzertbesuchers Johann Friedrich Reichardt, der es bei diesem Mammutprogramm vier Stunden lang im bitterkalten Theater ausgehalten hatte. Zuerst erklang die Pastorale-Sinfonie, und allein sie, schrieb Reichardt, dauerte "länger als ein ganzes Hofkonzert bei uns dauern darf."
Beethoven hatte lange auf die Gelegenheit gewartet, der Öffentlichkeit einen Querschnitt seines Schaffens der vorangegangenen zweieinhalb Jahre zu präsentieren. Das Orchester hatte jedoch unzulänglich geprobt. Der Komponist selber saß am Klavier, spielte aber durch seinen fortschreitenden Hörverlust schlecht. Es war sein letzter Auftritt als Pianist.
Die Erfahrung dieses "Akademie-Konzerts" war für den Komponisten so bitter, dass er daran dachte, Wien zu verlassen. Erst durch die Garantie einer kontinuierlichen Förderung durch seine fürstlichen Gönner konnte er zurückgehalten werden.
Die Natur komponierte mit
Entstanden ist die "Pastorale" vorwiegend in den Jahren 1807 und 1808, quasi gleichzeitig mit der Fünften Sinfonie. Beide wurden Beethovens fürstlichen Gönnern Franz Joseph Maximilian Fürst Lobkowitz und Andreas Kyrillowitsch Graf Rasumowsky gewidmet.
Erste Ideen und Skizzen zur Sechsten Sinfonie soll der Komponist jedoch bereits 1803 angefertigt haben: In einem Skizzenbuch aus der Zeit findet man die Begleitfigur des langsamen Satzes und dazu die Bemerkung: "Murmeln des Baches". Beethoven soll sich in Nußdorf und Grinzing aufgehalten haben; zwischen diesen Wiener Vororten verläuft der Schreiberbach. "Hier habe ich die Szene am Bach geschrieben, und die Goldammern da oben, die Wachteln, Nachtigallen und Kuckucke ringsum haben mitkomponiert". Ein schönes Zitat, da es jedoch von Anton Schindler überliefert wurde - der Diener und erster Biograph Beethovens war für seine blühende Fantasie bekannt - darf die Echtheit angezweifelt werden.
Während der Kompositionsarbeit hieß sie "Sinfonia characteristica" oder "Sinfonia pastorella", erst bei Drucklegung ließ Beethoven sie "Sinfonie pastorale" überschreiben.
Beethoven war lange nicht der Erste, der die Natur in musikalischer Form geschildert hat. Sogar seit dem 14. Jahrhundert hatten Komponisten Vogellauten in ihrer Musik wiedergegeben. Unwetter, Jagdgeschehen oder Schlachtenmusiken kommen in der Musik des 18. Jahrhunderts vor. Aber auch in der Tradition des Hirtenstücks, das meist eine bukolische Szene aus der Antike schildert, wurde die Natur verherrlicht. Nach den Schriften des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau galten Ausflüge in die Natur als eine Art moralischer Selbsterziehung.
Für Beethoven selbst war die Natur nicht als moralischen sondern persönlichen Gründen wichtig. "Mein unglückseliges Gehör plagt mich hier nicht", schrieb er in einem Skizzenblatt im Jahr 1815. 1810 schreibt er in einem Brief an seine Freundin Therese Malfatti: "Kein Mensch kann das Land so lieben wie ich. Geben doch Wälder, Bäume, Felsen den Widerhall, den der Mensch wünscht!" Oder in Baden im Sommer 1806: "Ist es doch, als ob jeder Baum zu mir spräche auf dem Lande: Heilig, heilig!"
Ungewöhnlich in der Sechsten Sinfonie sind die fünf Sätze – anstatt vier, wie sonst üblich. Dabei gehen die letzten drei ohne große Pause quasi ineinander über. Wie der Beethoven-Biograph Jan Caeyers schreibt: "Die Zeit verstreicht langsam, die Musik wirkt abgeklärt, wie von einer tiefen inneren Ruhe erfüllt. Kaum eine Themenentwicklung, es fehlt der Sog in eine bestimmte Richtung."
Zwischen 37 und 50 Minuten dauert das Werk je nach Dirigent. Der Autograph der Sinfonie Nr. 6 wird im Bonner Beethovenhaus aufbewahrt. Auf den Seiten, die in der aktuellen Ausstellung aufgeschlagen sind, sieht man filigrane Noten in Beethovens Handschrift, Notizen dazu und eine durchgestrichene Passage. Das war typisch Beethoven: Er feilte immer weiter an seinen Werken, wovon seine Partituren und Skizzenbücher beredtes Zeugnis ablegen.
Musikalische Malerei
Dass Beethoven bei der "Pastorale" in Bildern dachte, hört man beispielsweise in den ziemlich wörtlichen Zitaten von Vogelrufen am Schluss des zweiten Satzes. Damit gar kein Zweifel aufkommt, überschreibt Beethoven die entsprechenden Stellen in der Partitur: "Nachtigall", "Wachtel" und "Kuckuck".
Im dritten Satz parodiert der Komponist Dorfmusikanten – etwa durch die Oboe, die ihren Einsatz zu verfehlen scheint oder durch Basstöne, die hinterher hinken.
Dann kommt der Sturm: unmissverständlich, das Grollen der Celli und der Kontrabässe, die kaskadenhafte Abwärtsmotive der Geigen oder der Donnerschlag der Pauke.
Es sind aber auch die Überschriften der einzelnen Sätze, die – für Beethoven völlig untypisch – sehr konkret sind: "Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande", "Szene am Bach", "Lustiges Zusammensein der Landleute", "Gewitter und Sturm" und "Hirtengesänge – Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm".
Dennoch war Beethoven, der sich über die allzu deutlichen Naturschilderungen in den Werken anderer Komponisten lustig gemacht hat, bemüht, dass die Effekte und Überschriften nicht allzu wörtlich verstanden werden sollen. Bei den Kompositionsskizzen heißt es mal: "Jede Mahlery, nachdem sie in der Instrumentalmusik zu weit getrieben, verliert". Dann kam bei der Drucklegung die offizielle Erklärung: "Mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey".
Im Laufe der Jahre waren längst nicht alle überzeugt. Die Sechste hinkte den anderen Sinfonien Beethovens in der Popularität lange hinterher. "Sehen Sie sich die Szene am Bach an. Es ist ein Bach, aus dem allem Anschein nach Kühe trinken", schrieb Claude Debussy. "Jedenfalls veranlassen mich die Fagottstimmen, das zu glauben. All das ist sinnlose Nachahmerei oder rein willkürliche Auslegung."
Als ob er solche Kritik vorausgeahnt hatte, formulierte es Beethoven einmal selbst in Worten, die für heutige Hörer noch gelten können: "Man überlässt es dem Zuhörer, die Situationen auszufinden. Wer auch nur je eine Idee vom Landleben erhalten will, kann sich ohne viele Überschriften selbst denken, was der Autor will."