Anwalt: Triage-Urteil ist wichtiges Signal
6. Januar 2022Im Sommer 2020 haben neun chronisch kranke und behinderte Menschen das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) angerufen, weil sie befürchteten, im Fall einer Triage wegen ihrer Behinderung nicht behandelt zu werden. Herr Tolmein, Sie hatten als Anwalt die Klage für sie eingereicht. Weshalb war die Verfassungsbeschwerde so wichtig, so dringlich?
Oliver Tolmein: Es ging darum, dass der Gesetzgeber es versäumt hat, eine Schutzvorschrift, ein Gesetz zu erlassen, das eine drohende Triage so regelt, dass Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligt werden. Er hat vielmehr die Auffassung vertreten, dass das im Falle von knappen Ressourcen eine Sache ist, die die Ärzte schon irgendwie managen werden, und damit eine spezifisch medizinische Aufgabe.
Das haben wir anders gesehen. Eine gesellschaftliche Frage, nach welchen Kriterien entschieden werden soll, wer die knappen Ressourcen erhält, kann nur der Gesetzgeber regeln.
Am 28. Dezember 2021 hat das Bundesverfassungsgericht dann seine Entscheidung getroffen. Welche Konsequenzen hat das?
Der Gesetzgeber ist dadurch gehalten, unverzüglich Vorsorge und Maßnahmen zu ergreifen, die verhindern, dass im Fall einer Triage Menschen mit Behinderungen wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Das ist sozusagen der Auftrag.
Es ist aber nicht so, wie wir es uns das [als Kläger] gedacht hatten. Wir hatten gesagt: "Wir wollen ein Gesetz." Da hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: "Nein! Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten: Er kann frei entscheiden, welche Maßnahmen er ergreift". Er könnte auch eine Verordnung erlassen. Das obliegt sozusagen seiner Entscheidungsgewalt. Aber er muss auf jeden Fall etwas tun.
Welchen Standpunkt vertritt die UN-Behindertenrechtskonvention in dieser Sache?
Die UN-Behindertenrechtskonvention verlangt, dass bei Fragen, die Menschen mit Behinderung betreffen, auch Menschen mit Behinderungen teilnehmen müssen, damit sie sich aktiv einbringen können. Dieses Problem hatte der Gesetzgeber bis zu der Verfassungsbeschwerde offenbar nicht erkannt.
Welche Regeln hatte die Ärzteschaft aufgestellt, wie hätte die Diskriminierung dann ausgesehen?
Die Ärzteschaft kann fachliche und wissenschaftliche Richtlinien erlassen, aber die sind erst einmal nicht verbindlich. In unserem konkreten Fall, als es um die Zuteilung von zu knappen Ressourcen ging, hat eine Vereinigung von Intensivmediziner/innen und Notärztinnen und Notärzten eine sogenannte "F1 Richtlinie" erlassen. Darin steht, dass Menschen nicht wegen einer Behinderung oder wegen ihres Alters benachteiligt werden dürfen.
Dann aber kommen die Kriterien, anhand derer entschieden werden soll, wer denn schließlich die knappen Ressourcen bekommt. Diese Ressourcen sollen den Menschen die eine sogenannte Komorbidität haben, also Vorerkrankungen oder andere Erkrankungen zusätzlich zu Corona, nachrangig erhalten.
Das gilt auch für diejenigen, die sich nach einer bestimmten klinischen Skala, der sogenannten Gebrechlichkeitsskala, in einem schlechten Allgemeinzustand befinden.
Danach wird beispielsweise eine Person, die im Rollstuhl sitzt, als jemand gesehen, der in einem solchen schlechten Allgemeinzustand ist, weil er eben nicht gehen kann. Der würde die Ressourcen deswegen nachrangig erhalten. Und das ist das, wogegen sich das Bundesverfassungsgericht wendet und wogegen auch wir uns wenden.
Wie würde das in der Praxis aussehen?
Bei den neun Beschwerdeführern, die die Verfassungsbeschwerde eingereicht haben, hätte das weitreichende Folgen gehabt. Hätten sie auf eine Intensivstation gemusst, damit sie beatmet werden können, aber eben nicht genügend Plätze da gewesen wären, dann hätte es geheißen: "Da nehmen wir doch erst mal diejenigen, die laufen können und diejenigen, die keine neurologische Erkrankung haben und beatmen und behandeln diese Menschen. Und wenn es dann noch freie Intensivbetten gibt, dann kommt ihr dran."
Das wäre die Benachteiligung gewesen. Für jede einzelne Patientin und für jeden einzelnen dieser Patienten hätte das ganz klar bedeutet, dass sie sterben werden. Sie wären letztendlich erstickt. Man könnte diese Menschen dann nur noch palliativ behandeln, damit ein solcher Vorgang vielleicht nicht ganz so grässlich ist. Aber tödlich ist er auf jeden Fall.
Was hat sich durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geändert?
Meines Erachtens ist durch diese Entscheidung gesagt worden: Nach einer solchen typisierten Skala wie der Gebrechlichkeitsskala oder nach typisierter Komorbidität können keine Entscheidungen getroffen werden. Es müssen andere Maßstäbe gefunden werden. Und es wäre jetzt die Aufgabe des Gesetzgebers zu überlegen, welche Maßstäbe das sein könnten und wie man der individuellen Patientin, dem individuellen Patienten gerecht werden kann. Aber man wird kaum zu dem Schluss kommen, dass derartige Kriterien einfach anzuwenden sind.
Welche Auswahl-Aspekte könnten denn bei einer Trage anstelle dessen eine Rolle spielen?
Es könnte Überlegungen wie "First come - first serve" geben: Wer zuerst da ist, bekommt eine Behandlung. Es muss geregelt werden, ob eine Behandlung eingestellt werden kann, wenn ein anderer Patient mit vielleicht besseren Aussichten kommt. Der Gesetzgeber muss da meines Erachtens ganz klare Regelungen treffen, dass das nicht geht.
In dem Moment, wo ein Patient eine Behandlung bekommt und diese noch aussichtsreich ist, kann man sie ihm nicht wieder wegnehmen und verweigern. Das sehen aber zum Beispiel die Richtlinien der DIVI [Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin] anders. Deswegen gibt es noch einiges an Arbeit, und es muss noch einiges an ethischen Konflikten gelöst werden.
Das Interview führte Matthias Klaus im Rahmen des Podcasts "Echt behindert" vom 5. Januar 2022. Den Podcast können Sie hier abrufen.
Die komplette Sendung finden sie als Transkript hier.
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