Die Kulturszene Beiruts nach der Explosion
4. November 2020Es waren mehr als 2500 Tonnen Ammoniumnitrat, die ein Brand am 04. August 2020 im Hafen von Beirut zur Explosion brachte. Die davon ausgehende Druckwelle zerstörte die Häuser und Wohnungen von schätzungsweise 300.000 Menschen. Nach Regierungsangaben kamen mindestens 190 Bewohner Beiruts ums Leben, Tausende wurden verletzt. Doch die Libanesen sind nicht nur von den Folgen der Explosion und weiteren heftigen Bränden in Beirut gebeutelt. Seit langem geht es dem Land wirtschaftlich nicht gut, zusätzlich setzt Corona der Bevölkerung zu. Schon vor der Katastrophe protestierten in den letzten Wochen viele Menschen gegen die Regierung. Einige Libanesen wollen Beirut jetzt für immer den Rücken kehren .
Mounir Mahmalat ist einer von denen, die bleiben möchten. Seit vier Jahren lebt der Deutsche in Beirut - einer Stadt, in der er sich vor der Brandkatastrophe niemals gelangweilt habe, sagt er. Er ist Cellist in der Band "Stories - Bridging Traditions". Wie er im DW-Interview erzählt, hat er in der aktuellen Situation zum Glück noch ein weiteres Standbein. Wir sprachen mit ihm über die Lage für Kulturschaffende und das kulturelle Leben in der Hauptstadt drei Monate nach der Explosion. Erreicht haben wir ihn in seiner Übergangsbleibe - zwanzig Minuten außerhalb Beiruts. Dort hat er nach der Katastrophe Zuflucht gefunden.
DW: Herr Mahmalat, wie haben Sie den Tag der Explosion erlebt? Waren Sie in der Stadt?
Mounir Mahmalat: Das Bemerkenswerte an dieser Katastrophe ist, dass jeder - wirklich jede und jeder im Land - seine eigene Geschichte von der Situation und davon, was passiert war, zu berichten hat - einfach, weil es so ein unglaublich intensiver Augenblick war. Jede und jeder weiß ganz genau, was ihr oder ihm in diesem konkreten Moment geschehen ist; auch, wenn man selbst gar nicht in der Stadt war. Viele Unterhaltungen beginnen nun so: "Wo warst du während der Explosion? Ich hoffe, dass nichts passiert ist!" Das hat das soziale Miteinander tatsächlich auf verschiedene Weise verändert.
Ich selbst war in Beirut, leider - doch ich bin angesichts der Umstände gut davongekommen. Meine Wohnung wurde schwer beschädigt, aber glücklicherweise war ich nicht zu Hause. Ich war in einem anderen Teil der Stadt, der etwas entfernt vom Ort der Explosion liegt. Wie viele von uns habe auch ich kleinere Verletzungen davongetragen, aber nichts im Vergleich dazu, was manch anderer an diesem Tag ertragen musste.
Anfangs dachte jeder, dass diese spezielle Explosion etwas war, dass in unmittelbarer Nähe geschehen sein musste. Zu verstehen, dass etwas von diesem gewaltigen Ausmaß, diesem unvorstellbaren Ausmaß, passieren konnte, das dauerte ein oder zwei Stunden. Ich begann es erst zu realisieren, nachdem ich nach Hause gekommen war, nachdem mich ein paar Nachrichten erreicht hatten und nachdem sich ein paar der Gerüchte, die auf den Sozialen Medien und in den Nachrichten verbreitet wurden, bestätigt hatten.
Ängste in der unmittelbaren Zeit nach der Explosion bezogen sich auf einen terroristischen Anschlag, möglicherweise auf einen Anschlag durch Israel oder auf etwas eines größeren Ausmaßes, das nicht gleich sichtbar ist. Dass ein Unfall wie dieser hatte passieren können, kam vielen von uns erst ein paar Stunden später in den Sinn.
Ich kann nur erahnen, was für Auswirkungen eine derartige Explosion auf jemanden haben muss. Darf ich fragen, wie Sie heute leben und arbeiten?
Vielleicht als Seitenlinie der Geschichte: Ein paar Wochen nach der Explosion gab es ein weiteres großes Feuer im Hafen, ein sehr bedrohliches, bei dem sich eine enorme schwarze Rauchfahne entwickelte. Das zog viel Aufmerksamkeit auf sich. Und es ließ besonders bei jüngeren Leuten und Kindern das Trauma wiedererwachen. Ich denke, die Auswirkung auf die soziale Psyche der Bevölkerung muss noch besser untersucht und verstanden werden.
Wie ich lebe? Ich bin Musiker und zugleich glücklich genug, verschiedene Beschäftigungen zu haben. Ich bin außerdem Ökonom und arbeite für verschiedene Denkfabriken und Entwicklungsorganisationen, einschließlich der Weltbank beispielsweise. Glücklicherweise muss ich mich dieser Tage nicht auf meinen Beruf als Musiker verlassen, um meinen Lebensunterhalt zu stemmen.
Die Explosion hat weite Teile der Stadt beschädigt. Wie sieht das kulturelle Leben derzeit aus, wenn es - auch im Hinblick auf die Corona-Pandemie - überhaupt möglich ist?
Die Explosion zerstörte genau den Teil Beiruts mit den meisten kulturellen Stätten. In der Nähe des Hafens gab es eine große Anzahl von Museen, Theatern, Musiksälen, denkmalgeschützten Gebäuden, Pubs, Bars, Restaurants - es war wirklich das trubelige Herz der Stadt; ein Großteil dessen, wofür Beirut bekannt war und weswegen so viele Menschen von überall aus der Welt herkamen. Nun sind nur eine Handvoll dieser Veranstaltungsorte geöffnet oder konnten wiedereröffnet werden.
Und wenn man nun nachts an dieser Gegend vorbeikommt, wird man einer Geisterstadt gewahr. Zuvor gab es eine beeindruckende Skyline und jetzt ist da einfach kein Licht. Aber es ist nicht nur der physische Schaden, der das kulturelle Leben beeinträchtigt. Er hat auch große Auswirkungen auf die soziale Psyche. Wenn so ein großer Teil des kulturellen Erbes einer Stadt beschädigt wird, drückt das auf das Gemüt des Volkes - besonders nach der gegenwärtigen Lähmung durch die finanzielle und ökonomische Krise, die bereits die wirtschaftlichen Möglichkeiten vieler Libanesen stark in Mitleidenschaft gezogen hat.
Zudem hat der Libanon einen großen Anstieg von Corona-Fällen erlebt. Weil viele Tausend Menschen von der Explosion betroffen waren, waren die Krankenhäuser, die weiterhin funktionsfähig blieben, komplett überlastet. Es gab absolut keine Möglichkeit, an Social Distancing zu denken oder Masken zu tragen, während man versuchte, das Leben des Nachbarn zu retten. Darum hatte die Explosion einen massiven Anstieg an Coronavirus-Fällen zur Folge, was zu zwei neuen Lockdowns führte.
Die Auswirkung auf das kulturelle Leben ist auf vielfältige Weise schwer und wird das Land in den nächsten Monaten vermutlich noch beschäftigen.
Orte, an denen Sie aufgetreten sind, oder die Sie aufgesucht haben, um selbst Konzerte zu besuchen, wurden ebenfalls beschädigt - zumindest teilweise. Gibt es derzeit denn Konzerte?
Es gibt einige Konzerte momentan auf den sehr wenigen Bühnen, die geöffnet blieben und Open Air sind. Natürlich ähnelt das kulturelle Leben lange nicht dem, was es vorher war oder wie es in der Corona-Zeit sein könnte. Vor zwei Wochen konnte ich ein Konzert spielen (im "Onomatopoeia", einem der wenigen nicht zerstörten Eventorte; Anm. d. Red.), bei dem man fühlen konnte, dass die Menschen sich danach gesehnt hatten, wieder in einen emotionalen Austausch zu treten. Konzerte werden zu Situationen der Dankbarkeit. Die Menschen zeigten sich erleichtert darüber, nicht nur einen Anlass zu haben, ihr Apartment zu verlassen, sondern Leute zu treffen, die sie sonst nicht unbedingt treffen. In dieser Hinsicht denke ich, dass Musik und kulturelles Zusammenkommen absolut unverzichtbar sind.
In einer zerstückelten Gesellschaft wie der Libanesischen bietet Musik die Möglichkeit, gemeinsame Narrative zu entwickeln, die die Menschen an ihre gemeinsame Tradition erinnern. In diesen Zeiten ohne diese kulturellen Treffen und inmitten einer schweren Krise ist die Gesellschaft oft zurückgeworfen auf andere Formen der Identifikation, im Falle des Libanons ist das meist Religion. Ich glaube, dass man sich stärker darauf konzentrieren sollte, die so faszinierende Kulturlandschaft hier im Land zu bewahren - um den allmählichen Zerfall der Gesellschaft zu verhindern.
Was wünschen Sie sich von einem wiedererwachenden kulturellen Leben?
Ich würde mir wünschen, dass Musik und Kultur eine zentrale Rolle spielen in internationalen Bemühungen, die Libanesen in Zeiten einer Herausforderung von historischem Ausmaß zu unterstützen. Das kann viele Formen annehmen, beispielsweise können musikalische Veranstaltungen, Festivals, Tanzaufführungen, Bühnenkunst und Ausstellungen unterstützt werden. Die internationale Gemeinschaft kann in diesem Bereich sehr helfen, denn die libanesische Regierung hat nichts getan, um die Kunstszene zu unterstützen - wirklich nichts. Doch das ist sogar verständlich, wenn man das Ausmaß der Finanzkrise betrachtet, in der sich der Staat befindet.
Internationale Partner haben einen sehr guten Ruf im Land, wenn es darum geht, bestehende Beziehungen zu Künstlern, Musikern oder Filmemachern zu hegen, um kulturelle Erträge zu produzieren. Das Goethe-Institut beispielsweise hat einen bemerkenswerten Job gemacht, indem es Verbindungen von libanesischen Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt ermöglicht. Ich möchte hoffen, dass dies die libanesische Gesellschaft hin zu einer positiveren Einstellung puscht - eine, die die Menschen daran erinnert, was sie in der Vergangenheit stark gemacht hat und was sie in der Zukunft wieder stark machen kann.
Sie haben erwähnt, dass Sie finanziell nicht von Ihrer Musik abhängig sind. Was aber ist mit anderen Musikern, haben sie wirtschaftlich zu kämpfen?
Für viele Musiker sind diese Zeiten einfach verheerend. Wenn es keine Gelegenheit gibt aufzutreten, sind viele auf ihre Ersparnisse und familiäre Unterstützung zurückgeworfen. Sofern diese nicht verfügbar sind, wird die Situation für viele Musiker schnell sehr schlimm.
Man muss in Betracht ziehen, dass Konzerte derzeit mit nicht leicht zu bewältigenden Herausforderungen einhergehen. Aufgrund der Tatsache, dass der Strom immer wieder abgeschaltet und die Währung immer weiter abgewertet wird, speist man die besten Musiker des Landes mit einem Hungerlohn ab. Konzertbesucher zahlen umgerechnet nur drei bis vier Euro Eintritt - und dann glaubt man noch, dass das zu teuer ist!
Wenn Sie drei Monate in die Zukunft blicken könnten, wie stellen Sie sich die Situation dann vor - gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht?
In der unmittelbaren Zukunft - also innerhalb der nächsten paar Monate - denke ich, wird es leider noch schwieriger werden, als es jetzt ist. Open Air-Veranstaltungsorte werden über weite Teile der regnerischen Jahreszeit schließen müssen. Das bedeutet, dass noch weniger Konzerte draußen gegeben werden können. Es wird also leider ein schwieriger Winter werden für die Musiker und Künstler im Land.
Das Interview führte Verena Greb.