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Beitrittsreife erreicht

Bernd Riegert, Brüssel1. Dezember 2003

Die Zensuren für die zehn Beitrittskandidaten im letzten Fortschrittsbericht der EU-Kommission fielen überwiegend gut aus. Nicht alle glänzten, aber keiner fiel durch. Ein Kommentar von Bernd Riegert.

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Günter Verheugen, der deutsche EU-Kommissar, der für die Erweiterung zuständig ist, war fast ein wenig wehmütig. Er habe ein wesentliches Kapitel seiner politischen Arbeit abgeschlossen. Es sei ein schweres Stück Arbeit gewesen, denn noch nie habe sich die Europäische Union so gründlich auf eine Erweiterungsrunde vorbereitet, wie auf diese im Mai 2004, wenn zehn ost- und südosteuropäische Staaten beitreten werden. Die Abschlusszeugnisse, die Verheugen nach mehr als fünf Jahren Beitrittsvorbereitungen Anfang November 2003 vorlegte, sind positiv. Alle zehn Staaten haben das Klassenziel, nämlich die Beitrittsreife erreicht. 1400 einzelne Politikfelder hat die EU-Kommission seit 1998 geprüft. 97 Prozent aller Vorgaben sind umgesetzt worden. In nur drei Prozent der umzusetzenden Bereiche gibt es schwerwiegende Probleme.

Stille Revolution

Verheugen geht davon aus, dass auch die letzten drei Prozent bis zum Beitrittsdatum noch bereinigt werden können. Daran haben die Beitrittsländer ein starkes eigenes Interesse, denn sonst droht, dass ihnen EU-Hilfsgelder durch die Lappen zu gehen. Es ist richtig, was EU-Kommissionspräsident Romani Prodi sagte: Die Beitrittsländer haben sich in einer stillen Revolution vom Postkommunismus zu marktwirtschaftlich orientierten Demokratien entwickelt. Dafür gebührt ihnen Anerkennung. Bei dieser Wandlung haben sie umfangreiche Hilfe aus Brüssel bekommen und sie verdienen sie auch weiterhin.

Polen

Dass ausgerechnet Polen die meisten roten Karten im Beitrittsbericht bekommt, nämlich neun, mag auch ein Stück politische Taktik der EU sein, um Polen in der laufenden Verfassungsdebatte zu zügeln. Polen fordert nämlich lautstark im Verein mit Spanien vorteilhafte Stimmrechte und christlichen Gottesbezug in der EU-Verfassung. Das Beitrittszeugnis zeigt Polen, wo seine Grenzen liegen und soll die selbstbewusste Regierung in Warschau daran erinnern, dass sie finanziell gesehen die alten EU-Staaten brauchen wird.

Rumänien, Bulgarien

Der Fortschritt von Rumänien und Bulgarien bei der Annäherung an die EU-Normen ist beeindruckend. Der Reformeifer ist groß, die Schwierigkeiten sind es auch noch. Die EU-Kommission legte den Finger noch einmal in alte Wunden, wie Korruption, Rechte der Roma und rechtlicher Status von Waisenkindern und Behinderten. Lob gab es aber für die wirtschaftlichen Reformen in Rumänien und den Umbau des Justizapparates in Bulgarien. Wenn die Entwicklung so weiter geht, steht einer Aufnahme 2007 nichts im Wege. Wunder sollten sich die Beitrittskandidaten von Europa aber nicht erhoffen. Der Lebensstandard in Osteuropa wird noch über Jahre unter dem Durchschnitt der alten EU liegen. Die Konkurrenz wird härter werden, aber die Chancen werden größer.

Türkei

Der Türkei bescheinigt der Fortschrittsbericht, dass sie für Beitrittsverhandlungen noch nicht reif ist. Die Geschwindigkeit, mit der die Regierung in Ankara politische und wirtschaftliche Reformen ankündigt und verabschieden lässt, ist hoch. Die Umsetzung verläuft allerdings schleppend. Was nutzen die schönsten Anti-Folter-Gesetze, wenn sich der Polizist vor Ort nicht daran hält? Europäische Standards werden vielfach noch nicht erreicht. Das Zeugnis der EU spricht von stetem Bemühen, aber noch keinem ausreichenden Ergebnis.

Zypernfrage

Abweichend von der bisherigen Politik stellte EU-Kommissar Verheugen ein Junktim zwischen möglichen Beitrittsverhandlungen und der Zypernfrage her. Eine Wiedervereinigung des türkisch dominierten Nordens mit dem griechisch-zyprischen Südens der Insel noch vor dem Beitritt des Südens zur EU bis Mai 2004 wäre für das türkische Beitrittsbegehren sehr hilfreich. Das hat die Kommission Ankara ins Stammbuch geschrieben und damit den Druck auf die islamisch-konservative Regierung erhöht. Im Herbst 2004 will die EU-Kommission ihre Empfehlungen an die Staats- und Regierungschef für die Türkei abliefern, bevor diese entscheiden, ob die Türkei Beitrittsverhandlungen aufnehmen sollte. Falls sich bei der Anwendung von Menschenrechten sowie Grundfreiheiten und auch bei der Gleichberechtigung der Kurden nichts Entscheidendes tut, könnte der Beitritt der Türkei weiter verzögert werden. Schon jetzt ist damit vor 2012 nicht zu rechnen.