Gebete und Kerzen für die Opfer von Nizza
18. Juli 2016Es sollten fröhliche und unbeschwerte Tage an der französischen Mittelmeerküste werden. Das Abitur war bestanden und das wollten die Schüler der Berliner Paula-Fürst-Gemeinschaftsschule mit einer Abschlussfahrt feiern. Doch für die 19-jährige Silan, ihre Mitschülerin Selma und eine begleitende 29-jährige Deutschlehrerin wurde es eine Reise ohne Wiederkehr. Am Abend des 14. Juli war die Klasse um 23 Uhr auf der Promenade des Anglais in Nizza beim Feuerwerk. Seitdem gelten die drei Deutschen als vermisst. Auch wenn die Identifizierung ihrer Leichen noch aussteht, muss davon ausgegangen werden, dass sie unter den 84 Opfern sind.
"Wo ist das Glück, mit dem Ihr vor Tagen aufgebrochen wart?", fragt der evangelische Probst Christian Stäblein im Berliner Dom. Das Gotteshaus ist an diesem Montag für zwei Stunden für Touristen gesperrt. Hunderte Schüler und Lehrer, die überlebt haben, sind mit ihren Familien und Freunden zu einem interreligiösen Gedenkgottesdienst gekommen, der von Stäblein und dem katholischen Weihbischof Matthias Heinrich geleitet wird und an dem auch Imam Kadir Sanci mitwirkt.
Wie sollen wir das aushalten?
Die vielen Bankreihen im Dom sind eng besetzt. Klassen aus zehn Berliner Schulen waren am 14. Juli in Nizza und müssen nun mit "unerträglichen Bildern des Schreckens" fertig werden, wie Probst Stäblein sagt. Die Schüler wissen, dass es jeden von ihnen hätte treffen können und der Probst spricht ihnen aus der Seele: "Tote in nächster Nähe, auch in unserer nächsten Nähe, wie sollen wir das aushalten, Gott, fragen wir hier in diesem Raum?" Ein Organist spielt Werke von Grieg und Bach an der Orgel. Eine Sopranistin singt "The Lord Bless You And Keep You."
Auch Weihbischof Heinrich versucht so gut es geht, die jungen Menschen zu trösten. "Warum das grausame Leid, warum der Tod, warum die furchtbare Schuld, warum die vielen Opfer?" Der christliche Glaube gebe darauf nur eine vorläufige Antwort. "Christus hat uns gelehrt, wie man das Kreuz tragen kann, wie man es versteht, hat er uns nicht gesagt." Mit Blick auf das Leid seien die Menschen auf den Glauben angewiesen. Gottes Wort verspreche, dass Leid und Tod nicht das letzte sein werden.
Keine Namen, keine Fotos
Weder werden bei dem Gottesdienst die Namen der Berliner Opfer vorgelesen, noch gibt es Fotos von ihnen. Es ist eine Trauerfeier in der Ungewissheit, da der Tod der drei Frauen offiziell noch nicht bestätigt ist. Doch es werden Kerzen für sie angezündet. Ebenso wie für die Familien, die Stadt Nizza, die Franzosen und für andere Länder, die immer wieder von Anschlägen heimgesucht werden. Imam Kadir Sanci spricht ein muslimisches Gebet. Bei einer Schweigeminute fassen sich die Menschen im Dom an den Händen und bilden einen Kreis.
Zum Abschluss ergreift Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) das Wort. Es ist schon das dritte Mal seit Januar 2015, dass er nach einem Anschlag seine Solidarität und sein Mitgefühl mit Frankreich bekunden muss. Müller hat Angst davor, dass nun der Hass gegen Muslime wächst. "Manche neigen jetzt dazu, die Schuld ganzen Gruppen oder gar Religionen zuzuweisen und damit unsere vielfältige Gesellschaft zu spalten." Mit der Gedenkstunde solle ein Zeichen der Solidarität und des friedvollen Miteinanders gesetzt werden.
Gegen Diskriminierung und Intoleranz
"Wir sind voller Trauer und viele von uns sicher auch voller Wut", sagt Müller. "Aber auch wenn es schwer fällt, die Antwort auf dieses schreckliche Verbrechen kann und darf jetzt nicht lauten, Hass mit Hass und Gewalt mit Gewalt zu beantworten." Wachsam für das zu sein, was um einen herum geschehe, dürfe nicht dazu führen, anderen mit Vorverurteilungen zu begegnen. "Wir dürfen nicht zulassen, dass Gruppen in unserer Gesellschaft unter Generalverdacht gestellt werden, dass Vorurteile verbreitet werden und Ausgrenzung gepredigt wird."
Viele wollten, dass Intoleranz, Diskriminierung, Rassismus wieder gesellschaftsfähig würden, so Müller. "Aber ich sage: Lassen wir uns unser freies, tolerantes Leben nicht kaputt machen." Respekt und Toleranz gehörten zu Berlin, der weltoffenen Stadt der Freiheit, wie die Luft zum Atmen.