Theatertreffen voller Vielfalt
18. Mai 2012Die Eröffnung war traurig. Oder genauer: das, was zur Eröffnung gezeigt wurde, war sehr traurig. Depressionsstudien im Dreierpack, die letzten Stücke der 1999 mit gerade einmal 28 Jahren freiwillig aus dem Leben geschiedenen britischen Dramatikerin Sarah Kane - neu arrangiert von Johan Simons, dem Intendanten der Münchener Kammerspiele: "Gesäubert", "Gier", "Psychose 4.48", traurige Gesänge über Leid und Liebessehnsucht, Hoffnungslosigkeit und Gewalt, wütend schön gespielt. Und elegisch schwer - ein Stimmenkonzert und dunkler Abgesang.
Lang und länger
"Waste your time – verschwenden Sie ihre Zeit" hatte Yvonne Büdenhölzer, die neue Leiterin des Theatertreffens, ihr Grußwort zum diesjährigen Gipfeltreffen der Zunft überschrieben. Tatsächlich bedurfte es einiger Geduld und viel gelassenen Sitzfleisches, um diesen Theatermarathon unbeschadet zu überstehen. Genau 135 Stunden und 20 Minuten musste einplanen, wer sich alle Aufführungen der nach Berlin geladenen zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der Saison hätte angucken wollen. Monatelang war eine unabhängige Jury von sieben Theaterkritikern im deutschsprachigen Raum unterwegs, um schließlich diese Auswahl zu treffen. Die Einladung zum Theatertreffen gilt nach wie vor als große Auszeichnung.
Was es gab? Ein Festival der Extreme und der Neuzugänge. Die längsten Inszenierungen in der 49-jährigen Geschichte des Theatertreffens - Nicolas Stemanns "Faust I und II" dauert 8 Stunden 15 Minuten, Alvis Hermanis "Platonov" 4 Stunden, 45 Minuten und die extreme Ibsen-Nacht "Johan Gabriel Borkman" von Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdsten gar locker 12 Stunden und mehr. Das bedeutet freilich keineswegs, dass das deutschsprachige Theater neuerdings immer und überall ausufernd lang ist. Vielmehr ist extreme Länge ebenso möglich wie das kurze knappe Theaterglück. Weil es nämlich, und das hat dieses Theatertreffen recht schön und deutlich unterstrichen, im deutschsprachigen Theater überhaupt gar keine Trends und Moden mehr gibt. Vielmehr ist alles möglich, und manchmal ist das dann auch ziemlich extrem.
Schrill schräg verstörend
Beim Langzeit-Ibsen des deutsch-norwegischen Theaterkollektivs Müller/Vinge/Reinholdtsen, zu sehen im Prater der Berliner Volksbühne, wird jeden Abend ein bisschen anders gespielt. Immer aber ist dieses schrille schräge verstörende Gesamtkunstwerk Geisterbahn, Rocky Horror Show und Kasperltheater in einem – schamlos, schockierend, nervtötend, quälend langweilig, größenwahnsinnig.
Dauerlachen ließ es sich überschaubare zwei Stunden lang beim zweiten Berliner Heimspiel, der "(S)panischen Fliege", inszeniert von Herbert Fritsch, ebenfalls an der Volksbühne. Virtuos fallende, stolpernde und Salti schlagende Schauspieler mit schrillen Stimmen und hohen Haartürmen toben sich auf einem riesigen gewellten Teppich mit eingebautem Trampolin außerordentlich spielfreudig aus und halten dem blöden doppelmoralischen Spießbürgertum dabei einen zeitgeistigen Zerrspiegel vors Gesicht. Wirklich lustig!
Gut und anders
Gute Schauspieler und Schauspielerinnen konnte man bei diesem Theatertreffen überhaupt viele erleben - Künstler, die die tollsten Dinge beherrschen, die mehrere Instrumente spielen, singen, tanzen, grooven, die sehr komisch gehen können, gar auf Kommando pinkeln – und zwar ganz gezielt. Ohne sie würden all die ausgefallenen Regiekonzepte und Interpretationen, die man beim Theatertreffen bestaunen konnte, überhaupt nicht funktionieren. Denn was die Jury nach monatelanger Sichtung und höchstwahrscheinlich stundenlangen Entscheidungsfindungsprozessen als bemerkenswert auserkoren hat, das bietet mehr als das hinlänglich bekannte Sprechtheater und macht ziemlich viel anders oder neu. Das strotzt dermaßen vor Ideen und Vielfalt, als gälte es, wen auch immer vom eben dieser Vielfalt und Ideenfülle zu überzeugen.
Lukas Langhoff hat Ibsens "Volksfeind" in Bonn mit dem dunkelhäutigen Falilou Seck in der Titelrolle auf die Bühne gebracht und provoziert das Publkikum mit Vorurteilen, derben Witzen und sozialistischem Liedgut. Rene Pollesch zeigt in "Kill your Darlings" (nochmal Volksbühne!) das Leben als lauen Grillabend, mit Turnverein und der Unmöglichkeit, in sozialen Netzwerken Liebe zu finden. Und Karin Henkel hat an den Münchener Kammerspielen "Macbeth" inszeniert, mit einer Frau, Jana Schulz, in der Titelrolle und nur vier weiteren Schauspielern, die munter die Rollen wechseln und den Klassiker als Moritat auf den traumatisierten Krieger geben. Was aber nur die verstehen, die den "Macbeth" gut kennen. Alle anderen hoppeln dem ewigen Rollentausch zunächst atemlos und dann sichtlich ermüdet hinterher.
Schnaps für das Publikum
Nicolas Stemann hat das deutlich besser gemacht. Bei seinem furiosen ganzen "Faust" steht immer oben drüber, was man unten sieht. Und deshalb ist die Begeisterung über diesen tiefgründigen Sinn- und Freiheitssucher ungebrochen und das Vergnügen an all den phantastischen Regie-Einfällen ziemlich groß. Es gibt Schnaps für das Publikum, eine wunderschöne Sopranistin, Schaumstoffpuppen, lange Monologe, Ironie und Dialektik, Chöre, Frauen, die Männer sind, und immer wieder den Griff nach dem Büchlein, in dem der Text des Herrn von Goethe geschrieben steht.
Und dann wäre da noch "Hate Radio" zu erwähnen und hervorzuheben. Das Stück stellt eine Sendung des ruandischen Völkermordradios RTLM nach und ist eine internationale Koproduktion freier Theater, eines Verlags und des Genozid Memorial Centers in Kigali. Eine beklemmende Ungeheuerlichkeit, große Kunst jenseits der Künste, intensiv re-inszenierte Zeitgeschichte, die jüngste und womöglich eindringlichste Form des Dokumentartheaters. Vier Moderatoren, extreme Rassisten allesamt, fordern live und ungebremst zum Völkermord auf und wippen dabei im Rhythmus der Grooves neuer cooler Bands – im originalgetreu nachgebauten Studio. Ein perfides Stück, das grausamste und beklemmendste des gesamten Theatertreffens. Ein Abgrund, keine Spielwiese. Eine Ungeheuerlichkeit, Mahnung und Desillusionierung gleichermaßen. Was der Mensch einmal getan hat, wird er wieder tun, heißt es am Ende. Da müsse man sich keine Illusionen machen
Erschöpfende Vielfalt
145 öffentlich getragene Theater gibt es in Deutschland, hatte Kulturstaatsminister Bernd Neumann bei der Eröffnung des Theatertreffens erfreut erwähnt. Und hinzugefügt: "Wir brauchen sie alle". Weil es so erfreulich viele sind, können sie auch ein vielfältiges Angebot machen. Theatermacher aus dem Ausland nehmen hier oft Anregungen mit nach Hause. Nach dem Theatertreffen aber muss man erstmal Luft holen. Geballte Vielfalt kann ganz schön erschöpfen.