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Berlins literarische Off-Szene

24. Januar 2002

In Berlin gibt es immer mehr erfolgreiche junge Autoren. Daneben wächst auch die literarische Subkultur der Hauptstadt. Offene Lesebühnen und Literatursalons feiern eine neue Blüte.

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Salonière Xóchil A. Schütz, Pagenkopf mit ungezügelter FantasieBild: Uwe Lindenberger

Ob in verrauchten Kneipen, Kinosälen, ehemaligen Stasi-Cafés oder im Keller kleiner Buchhandlungen: Der literarische Underground kennt viele Orte und hat ebenso viele Gesichter.

Von den Wurzeln der Salonkultur zum kreativen Chaos

Kathrin Girgensohn und Xóchil A. Schütz sind die modernen Berliner Salonièren. An die Treffpunkte berühmter Vorbilder wie Rahel Varnhagen und Henriette Hertz knüpfen die beiden mit "Theodoras Literatursalon" an. In Berlin zugezogen, wie schon der Typus der romantischen Salonière, machen Katrin und Xóchil die literarische Geselligkeit zum zentralen Aspekt ihrer vierzehntägigen Lesebühne mit Lesecontest.

Xóchil A. Schütz und Katrin Girgensohn
"Theo" und "Dora" moderieren gemeinsam einen SalonBild: Uwe Lindenberger

Die Vortragenden, die sich im Café Sibylle an der Karl-Marx-Allee hinters Lesepult stellen, sind nicht nur ambitionierte Jungautoren um die 30. Auch ein 60jähriger Ost-Berliner, der schon viele seiner Texte publiziert hat, gehört zum Stammpublikum. Das Text-Genre reicht von ernster Lyrik und Prosa über witziges Storytelling bis hin zur Slam-Poetry, mit der Moderatorin Xóchil auch andernorts in Berlin auftritt. Erlaubt ist, was den Vortragenden gefällt, und das Publikum, das aus allen sozialen Schichten stammt, ist geduldig. Kritik, die im Anschluss an die Textpräsentation fällt, ist laut Xóchil meist konstruktiv.

Viele der Autoren aus "Theodoras Literatursalon" haben ihre Texte in Anthologien publiziert, manch einer schon ein Stipendium gewonnen. Literarische Qualität, gemessen an literaturwissenschaftlichen Kriterien, ist jedoch nicht das Entscheidende. Was zählt ist letztendlich der selbstbestimmte Umgang mit Literatur, abseits vom etablierten Kulturbetrieb. Frech und frei nach Nietzsche lautet das Motto der beiden Salonièren: "Man muss noch Chaos in sich tragen, um einen tanzenden Stern gebären zu können."

Luftikusse und Goldjungs

Weniger ernsthaft und wesentlicher lärmiger, verrauchter und überfüllter geht es im Pavillon am Weinbergsweg, im Cube-Club, im Kaffee Burger und im Mudd-Club zu. Allesamt sind Orte im Osten der Stadt. Hier treffen sich Dichter wie Ahne, Tube und Spider, die gemeinsam als "Surfpoeten" formieren. Neben ihrem wöchentlichen Abend im Mudd-Club tingeln sie auch quer durch die Republik.

Ihre Texte bilden das Komische, Absurde, Unsinnige der Berliner Realität ab. Sie sind schnell, unfertig, oft eine Mischung aus Trivialität und Brutalität. Entscheidender jedoch ist die Inszenierung in gespielter Naivität oder Coolness. Diaprojektionen werden an die Wände geworfen und zwischen den Lesungen legt DJ Lt. Surf Musik auf - "Surfmusik", was sonst: die Beach boys, die Rumblers, die Sandals.

Das vorwiegend junge Publikum lümmelt rauchend und Bier trinkend in alten Sesseln. Zwischen den Lesungen wird getanzt oder auch Mal gemeinsam gesungen: "Der Mond ist aufgegaaangen".

Hin und wieder besuchen die "Surfpoeten" auch die "Chausee der Enthusiasten", eine Lesebühne im neuen Szene-Bezirk Friedrichshain. Oder sie tummeln sich im Kaffee Burger, schwoofen zu russischer Folklore bei Wladimir Kaminers "Russendisko" und tauschen sich untereinander literarisch aus.

Kaminers Disko ist auch zum Stoff des Buchs geworden, mit dem er zu einem der gefeiertsten Nachwuchsautoren Deutschlands avancierte. Neben "Russendisko" hat er unter dem Titel "Frische Goldjungs" die Stories einiger der "Surfpoeten" versammelt. Auch Luftikusse sehen ihre Ergüsse gerne einmal zwischen die Pappdeckel eines Verlagsprodukts gebunden.

Pikantes vorgetragen von Promis

Blixa Bargeld
Blixa Bargeld liest de SadeBild: Melanie Buss

Keineswegs selbst erdacht und zu Blatt gebracht sind die quälerischen sexuellen Ausschweifungen Juliettes und der tugendhafte Leidensweg ihrer Schwester Justine. Sie stammen aus der Feder des berühmt-berüchtigten Marquis de Sade und werden in einer Buchhandlung in Berlins neuer Mitte vorgetragen.

Die Vorleser, die sich in "Juliettes Literatursalon" ebenfalls in halb-öffentlicher und gleichzeitig intimer Atmosphäre vor interessiertes Publikum begeben, sind keinesfalls Unbekannte: Neubauten-Sänger Blixa Bargeld, die Schauspielerin Katharina Thalbach, der Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler haben hier schon gelesen.

Dem Lesenden steht es zu, die ihm zugeteilte Text-Passage zu inszenieren. Da kann es schon Mal passieren, dass die Lesung zum Happening gerät. Die Schauspielerin Franka Kastei brachte drei hochschwangere Kolleginnen mit, die sie in die Mitte des Raums platzierte und in eine szenische Lesung einband. Sie endete damit, dass die Gäste in den nebenan gelegenen Galerieraum getrieben worden, um sich dort um eine Badewanne zu versammeln.

Der de-Sad'sche Lesemarathon wird beendet sein, wenn der 10. Band der ersten vollständigen deutschen Fassung von "Justine und Juliette" erschienen und vorgelesen ist. Doch Buchhändler Hartmut Fischer, ein findiger Mittdreißiger, hält immer wieder neue Überraschungen bereit.

Alle Infos jetzt im Netz

Sich in der bunten Szene zurechtzufinden ist nicht ganz einfach, vor allem, weil sie in ständiger Bewegung ist.

Der Literaturkritiker Peter M. Stephan hat sich nicht nur umgeschaut, sondern seine Beobachtungen auch gebündelt. Stephans beständig um weitere Adressen anwachsender Literaturführer ist online auf der Website des Berliner Zimmers zu studieren. 27 Orte hat er inzwischen besucht und beschrieben.

Neben Literarischem Colloquium und Programmen wie "Trinken und Essen mit kulturellem Anspruch" werden sämtliche Adressen präsentiert, die mit der bürgerlichen Gediegenheit etablierter Literatur-Lesungen wenig gemeinsam haben.

Christine Gruler