Bevor Auschwitz zur Holocaust-Fabrik wurde
14. Juni 2020"Meine geliebte Halusia, vom 14.VI. befinde ich mich im Konzlager Auschwitz, bin gesund, fühle mich gut", schrieb 1940 Tadeusz Korczowski, Häftling Nummer 373, an seine Verlobte. Der Schriftverkehr stand unter strikter Kontrolle der Lagerverwaltung. Dem 26-Jährigen blieb kaum etwas anderes übrig, als das "angenehme Wetter in Auschwitz" zu loben. Nur zwischen den Zeilen versuchte er durchblicken zu lassen, dass er hier eher "länger" bleiben würde.
Mit demselben Transport am 14. Juni 1940 kam der 19-jährige Student Janusz Pogonowski. Über ihn weiß man, dass er 1943 als Widerstandskämpfer im Lager zusammen mit elf anderen Häftlingen zum Tode verurteilt wurde. Als er mit dem Seil um den Hals auf das Erhängen wartete, schaffte er es, den Sockel, auf dem er stand, wegzuschieben und sich damit selbst zu erhängen. So konnte er wenigstens den Moment seines Tode wählen, berichteten überlebende Zeitzeugen. "Plötzlicher Herztod", stand in der Todesurkunde, die die Familie per Post bekam.
Korczowski und Pogonowski gehörten zu den ersten Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz, das im Frühjahr 1940 in den Gebäuden einer ehemals polnischen Kaserne errichtet wurde. Dem Reichsführer SS Heinrich Himmler gefiel die günstige Verkehrslage, die für die Transporte der Häftlinge aus verschiedenen Teilen des besetzten Europa geeignet erschien.
Von den 728 Polen, die aus dem Gefängnis der südpolnischen Stadt Tarnów nach Auschwitz verlegt wurden, waren drei Viertel Männer unter 30 Jahren. Es waren überwiegend Intellektuelle und Studenten. Ihre Kapos und Aufseher wurden 30 deutsche Kriminelle, die die SS kurz davor aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen nach Auschwitz brachte. Formal gesehen waren sie auch Häftlinge und trugen die Nummer von 1 bis 30.
Ermordung und Deportation: die sogenannte "Intelligenzaktion"
Die polnischen Gefangenen waren Opfer der deutschen Besatzungspolitik, die auf die Vernichtung der polnischen Eliten abzielte. Nachdem die deutschen Truppen am 1. September 1939 Polen überfallen hatten, gliederte der NS-Staat die polnischen Westgebiete ins Deutsche Reich ein. Bis Juli 1940 ermordeten die Besatzer dort im Rahmen der sogenannten "Intelligenzaktion" 50.000 Polen und deportierten genauso viele in Konzentrationslager.
Im Generalgouvernement, also den polnischen Gebieten unter deutscher Zivilverwaltung, hat eine ähnliche Aktion unter dem Namen "Außerordentliche Befriedungsaktion" stattgefunden. Deportationen, Razzien und Morde wurden zum Alltag der deutschen Besatzungspolitik in Polen.
Ende 1942 wurden beispielsweise aus dem südostpolnischen Zamość 100.000 Bewohner vertrieben, darunter 30.000 Kinder. Viele von ihnen starben in Auschwitz. Zwischen 1939 und 1945 wurden insgesamt 140.000 Polen hierher deportiert, die Hälfte hat das Lager nicht überlebt.
"Polen sollte als Staat von der Bildfläche verschwinden. Die Bevölkerung sollte verdummen und den Deutschen als Arbeitssklaven dienen", sagt der deutsche Osteuropahistoriker Jochen Böhler von der Universität in Jena.
Besonders wichtig war die Zerschlagung der Eliten, die den Widerstand organisierten. "Der polnische Widerstand hat - unglaublich! - im besetzten Land einen Untergrundstaat nicht nur mit Schulen und Universitäten, sondern sogar mit einer eigenen Armee aufgebaut. Das ist einzigartig in der europäischen Geschichte", betont Böhler im Gespräch mit der DW.
Frühwarnungen über den Holocaust
Der Untergrundstaat sah es als eine seiner wichtigsten Aufgaben, die Welt wegen der Naziverbrechen, vor allem wegen der Judenvernichtung im besetzen Polen zu alarmieren. Böhler nennt es die "Tragik des polnischen Untergrunds", dass diese "Hiobsbotschaften" nicht gehört wurden.
Schon 1940 hatte Witold Pilecki, Offizier der polnischen Untergrundarmee, den Alliierten Berichte aus Auschwitz geliefert. Für diese Mission ging er freiwillig als Gefangener nach Auschwitz - er ist der einzige bekannte Mensch, der das tat. Er hoffte, dass die Alliierten Waffen ins Lager brächten, doch seine Berichte blieben ohne Echo.
Dasselbe geschah mit dem "Bericht an die Welt" von Jan Karski. Der Kurier des polnischen Untergrunds hat 1943 den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt persönlich über die massenhaften Deportationen der Juden in die Gaskammern informiert. "Ich wollte Millionen retten und ich war nicht in der Lage, es für einen einzigen Menschen zu tun", sagte Karski verbittert nach dem Krieg. Mehrmals warf er dem Westen eine "Gleichgültigkeit gegenüber dem Holocaust" vor.
Wenig Wissen über die polnischen Opfer
Obwohl "einzigartig in der europäischen Geschichte", sei der polnische Untergrundstaat "außerhalb Polens kaum bekannt", erklärt Jochen Böhler. Dasselbe gelte für die Verbrechen der Deutschen im besetzten Polen. "Das Problem besteht meiner Meinung nach darin, dass in der Schule der Holocaust meist völlig losgelöst von den Kontexten gelehrt wird, in denen er durchgeführt wurde. Und das ist eben die deutsche Besatzung in Polen, deren eine Zielrichtung ab 1941 die Ermordung der europäischen Juden auf polnischem Boden war", betont der Historiker.
Von den 3,5 Millionen polnischer Juden starben über 90 Prozent im Holocaust. Dass aber außerdem auch drei Millionen nicht-jüdische Polen Opfer des Zweiten Weltkrieges waren, werde in Deutschland "völlig ausgeblendet", so Böhler. In seinen Seminaren über die deutsche Besatzung in Polen müsse er "buchstäblich bei null anfangen".
Einzelschicksale wichtiger als Statistiken
Die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau will diese Erinnerung wachhalten. Gerade wurde die Namensliste des ersten Transports aktualisiert. Von den 728 Gefangenen haben 325 das Lager überlebt, 292 sind gestorben, das Schicksal von 111 ist unbekannt. Die persönlichen Schicksale werden akribisch anhand der wenigen Dokumente und Fotos rekonstruiert. Die kommen überwiegend von den Verwandten der Opfer, weil die SS die meisten Lagerdokumente vernichtete, um Spuren zu verwischen.
Seit 2007 steht das 200 Hektar große Gelände des ehemaligen Lagers als Weltkulturerbe auf der Liste der UNESCO. 2019 hatte die Gedenkstätte zwei Millionen Besucher. Jüngst musste ihr Direktor Piotr Cywinski um Spenden bitten, weil wegen der Schließung des Museums infolge der Coronavirus-Pandemie der Etat zusammenschrumpfte. Die Konservatoren haben ihre Arbeit jedoch nicht abgebrochen.
"Immer noch arbeiten wir an den einzelnen Geschichten. Die große Geschichte von Auschwitz besteht aus über 1,3 Millionen individueller Schicksale", sagt Cywinski. Diese Schicksale seien ausdrucksstarker als die bloße Todesstatistik. Mit ihnen will er der Welt über die Todesfabrik Auschwitz erzählen.