Bewegte Beziehungen
5. Mai 2012Eigentlich hatten die neutralen Niederlande gedacht, sie kämen davon. Doch am 10. März 1940 überfiel Nazi-Deutschland den kleinen Nachbarstaat im Nordwesten. Etwa 230.000 der damals neun Millionen Niederländer kamen im Zweiten Weltkrieg ums Leben. Die Überlebenden des Krieges litten unter Hunger, Armut und Wohnungsnot.
Drei Viertel der niederländischen Juden, nämlich 110.000 Menschen, wurden ermordet. Im Kampf gegen die Judenverfolgung blieben die Niederländer relativ passiv, sagt Friso Wielenga, der Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Universität Münster. Mehr als 20.000 Niederländer waren in der SS, bis zu 100.000 waren nach Angaben der Universität Münster Mitglied der NSB, der niederländischen nationalsozialistischen Bewegung. Nach dem Krieg wurden Kollaborateure strafrechtlich verfolgt.
Schwerer Weg zur Normalität
"Moffen" nannten die Niederländer die Deutschen im Zweiten Weltkrieg und danach, ein abschätziger Ausdruck, abgeleitet von "Muff" und "muffig". Überwiegend anti-deutsch war die Stimmung in den 1950er Jahren – aber nicht nur, sagt Friso Wielenga. Er weist daraufhin, dass einzelne Bevölkerungsgruppen beider Staaten sich bereits annäherten. 1947 wurde ein Koordinationsausschuss für kulturelle Beziehungen zu Deutschland gegründet.
Auch regional gab es Unterschiede: In Amsterdam, wo besonders viele Juden getötet und deportiert wurden, war die Deutschenfeindlichkeit lange spürbar. In Rotterdam dagegen, das enge Wirtschaftsbeziehungen mit dem deutschen Ruhrgebiet pflegte, war "die Aufgeschlossenheit gegenüber Deutschland gegenwärtig allgemein größer als in Amsterdam", wie der deutsche Botschafter Hans Mühlenfeld 1953 ins Auswärtige Amt meldete.
Den Weg hin zu einer normalen Beziehung gingen Deutsche und Niederländer bis in die 1960er Jahre langsam weiter – auch wenn die Hochzeit der damaligen niederländischen Prinzessin und heutigen Königin Beatrix mit dem Deutschen Claus von Amsberg nicht gerade auf Begeisterung stieß. Dann bekam der Zweite Weltkrieg durch Kriegsverbrecherprozesse wie den Eichmann-Prozess wieder neue Aktualität, auch weil die Niederländer die Aufarbeitung des Krieges sehr interessiert beobachteten. Sie erwarteten eine moralische Geste von Deutschland, die zeigen sollte, dass auch die Deutschen die Kriegsvergangenheit bedauerten, sagt Friso Wielenga.
Die Geste Gustav Heinemanns
Diese Geste kam von Gustav Heinemann, dem deutschen Bundespräsidenten, der im November 1969 als erstes deutsches Staatsoberhaupt nach dem Zweiten Weltkrieg in die Niederlande reiste. Er besuchte unter anderem die Gedenkstätte der Judendeportation "Hollandse Schouwburg" in Amsterdam, ein Theater, das während des Krieges zur Sammelstelle für Juden auf dem Weg in die Vernichtungslager wurde. Der nationalsozialistisch unbelastete Heinemann berücksichtigte die Bedürfnisse der Niederländer und besuchte einige ausgewählte bedeutungsträchtige Orte. "Das war vergleichbar mit dem viel bekannteren Kniefall von Willi Brandt im Warschauer Ghetto 1970, aber jetzt zugespitzt auf die Niederlande. Und das hat wirklich gezeigt: Jetzt präsentiert sich ein anderes, schuldbewusstes Deutschland. Und das war das, was die Niederlande gewollt haben", beschreibt Wielenga vom Zentrum für Niederlande-Studien.
Offenbar war auch die Kanzlerschaft Willi Brandts ein weiteres Element, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und den Niederlanden entspannte. Sein symbolischer Kniefall in Warschau überzeugte auch die Niederländer – neben anderen Nationen – davon, dass sich Deutschland gewandelt hatte.
Unruhige Zeiten in den Neunzigern
Eine neue Zäsur in den niederländisch-deutschen Beziehungen folgte Anfang der 1990er Jahre: Deutschland war wiedervereinigt und nicht nur die Niederlande, sondern viele Nationen fragten sich, wofür dieses große Deutschland in Zukunft stehen würde. Gesellschaftspolitisch brachen unruhige Zeiten an. Als Reaktion auf den ausländerfeindlich motivierten Brandanschlag von Solingen, bei dem fünf Menschen getötet wurden, schickten im Jahr 1993 1,2 Millionen Niederländer eine Protest-Postkarte an das deutsche Kanzleramt. Die Aufschrift lautete: "Ich bin wütend."
Auch zwischenstaatlich erhielt das deutsch-niederländische Verhältnis einen Dämpfer, als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl 1994 verhinderte, dass der langjährige Ministerpräsident der Niederlande, Ruud Lubbers, den Posten als Vorsitzender der Europäischen Kommission erhielt. In wirtschaftlicher Hinsicht gab es ebenfalls Widrigkeiten: Die deutsche DASA übernahm den niederländischen Flugzeugbauer Fokker. "Der große Stolz der Niederlande, die eigene Flugzeugfabrik Fokker, aufgekauft von Deutschen! War das so eine Art Vorboten eines starken wirtschaftlichen Deutschlands in Europa?" – so erläutert Wielenga die Gefühle jenseits der Grenze.
Schließlich erschien 1993 die heute durchaus kritisch gesehene, weil methodisch nicht ganz einwandfreie Clingendael-Studie, die auswies, dass ein großer Teil junger Niederländer den Deutschen kritisch gegenüberstand. "Die Empfindlichkeiten von Seiten der Niederlande häuften sich, so dass man in dieser Zeit wirklich von einer Verschlechterung des politisch-psychologischen Klimas sprechen kann", sagt Friso Wielenga.
Es war Zeit, zu reagieren: Auf höchster politischer Ebene wurden gemeinsame Projekte, Konferenzen und Annäherungsprogramme aufgelegt. Dazu gehörte auch die Überarbeitung von Geschichtsbüchern: Bis Mitte der 1990er Jahre endete die deutsche Geschichte in den niederländischen Schulbüchern nämlich im Jahr 1945. Mittlerweile ist auch die Entwicklung der Nachkriegsdemokratie in Deutschland Geschichtsstoff.
"Im Fußball kann auch der Kleine gewinnen"
Inzwischen ist das Verhältnis zwischen den Niederlanden und Deutschland ohne besondere Vorkommnisse, auch wenn das kleinere Land im Verhältnis zum großen Nachbarn darauf erpicht ist, seine eigene Identität zu bewahren, wie Wielenga darlegt. "Wir sind eben nicht das 17. Bundesland", fasst er die Gefühle der Niederländer zusammen.
Fußballspiele zwischen Deutschland und den Niederlanden sind allerdings noch immer ein besonderes Ereignis, wenn auch nicht mehr so spannungsgeladen wie in den 1980er Jahren. Als die Niederlande die Deutschen 1988 im EM-Halbfinale bezwangen, war das noch wichtiger als das Finale. "Fußball ist Krieg", sagte der damalige niederländische Nationaltrainer Rinus Michels. Eine Reihe von Beleidigungen auf dem Platz und zwischen den Fans prägten einige Zeit die Spiele. "Das Bild von groß und klein kann man deutlich durch den Fußball ausgleichen: Dann ist es nicht 80 Millionen gegen 16 Millionen, sondern elf gegen elf. Und da kann der Kleine auch mal gewinnen", sagt Friso Wielenga. Zur Abgrenzung und Betonung der eigenen Identität sei Fußball ein schönes Instrument.