Bin-Laden-Bericht: Mangel an Beweisen
13. Mai 2015Es klingt wie eine Räuberpistole. Das Weiße Haus hat die Weltöffentlichkeit über das international wahrscheinlich wichtigste Ereignis der ersten Amtszeit von US-Präsident Barack Obama systematisch belogen. Das ist die Kernthese des vor wenigen Tagen im "London Review of Books" veröffentlichten Artikel von Seymour Hersh. Danach war die pakistanische Militärführung informiert, als US-amerikanische Spezialkräfte in der pakistanischen Stadt Abbottabad im Mai 2011 Al-Kaida-Führer Osama bin Laden töteten. Offiziell hatte die Regierung in Islamabad immer betont, dass sie von der Operation nichts wusste. Auch Washington stellt das so dar.
Der investigativ arbeitende US-amerikanische Journalist Seymour Hersh wurde vor allem durch seine Enthüllungen über das My-Lai-Massaker während des Vietnamkriegs und die Folterpraktiken im Abu-Ghraib-Gefängnis während des Irakkriegs bekannt. Er ist unter anderem mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden. Darum löste sein jüngstes Stück nicht nur ein großes Medienecho, sondern auch ein harsches Dementi des Weißen Hauses aus.
Spätestens seit Edward Snowden an die Öffentlichkeit getreten ist, wissen wir, dass Geschichten, die wie Räuberpistolen klingen, nicht unbedingt Räuberpistolen sein müssen. Leider mangelt es der Hersh-Geschichte genau an dem Element, das den Unterschied zwischen einer spannend klingenden These und einem faktenbasierten Artikel ausmacht: Nachprüfbarkeit. Deswegen bleibt Hershs Behauptung, die Obama-Regierung habe die Weltöffentlichkeit gemeinsam mit hochrangigen pakistanischen Militärs durch ein ausgeklügeltes und breit angelegtes Manöver über den wahren Ablauf der Tötung von Osama bin Laden getäuscht, für etliche Fachleute bestenfalls eine These. "Meiner Meinung nach ist Hershs Bericht mit großer Wahrscheinlichkeit Blödsinn", schrieb Christine Fair, Pakistan-Expertin an der Georgetown University in Washington der DW.
Theorie statt Recherche
Die Tatsache, dass der Großteil von Hershs Geschichte auf nur einer ungenannten Quelle basiert, wird von vielen Kritikern als ein Kernproblem des Artikels benannt. Die dünne Quellenlage ist tatsächlich ein Knackpunkt des Textes. Das hätte allerdings durch verifizierbare Informationen anderer Art ausgeglichen werden können. Auch die Snowden-Enthüllungen beruhten schließlich nur auf einer Quelle, nämlich Snowden selbst. Durch die umfangreichen Dokumente und Snowdens öffentliche Erklärungen dazu sind sie aber beleg- und somit verifizierbar. Genau daran krankt jedoch Hershs Artikel.
"Auf einen Nenner gebracht ist Hershs Stück für mich eine aus 10.000 Wörtern bestehende Theorie und kein investigativer Journalismus, der Fakten etabliert", urteilt Scott Lucas, Professor für American Studies an der University of Birmingham. "Nirgendwo in Hershs Stück werden die Kernaussagen seiner Theorie durch solide Quellenangaben untermauert." Zudem geistere Hershs Beteuerung, es gebe eine amerikanisch-pakistanische Verschwörung rund um bin Ladens Tod, schon seit Jahren durch einschlägige Medien.
Kein schlagender Beweis
Pakistan-Expertin Fair gibt zu bedenken: Hershs Behauptung, Washington habe durch einen pakistanischen Informanten den Aufenthaltsort Osama bin Ladens erfahren, müsse nicht zwingend der offiziellen US-Version widersprechen, man habe den Terroristenführer durch eigene Recherche gefunden. Vielmehr sei es sogar wahrscheinlich, dass es mehrere Quellen gab.
Auch die Aussage, dass pakistanische Kreise über den Verbleib von bin Laden Bescheid wussten oder er womöglich sogar unter ihrer Kontrolle festgesetzt und überwacht wurde, ist laut Fair kein Beweis, dass die Staatsführung darüber informiert gewesen sein muss. In Pakistan gebe es "Organisationen, die dafür zuständig sind, sichere Orte für Terroristen zur Verfügung zu stellen, sogenannte 'safe houses', weil der Staat Terroristen für seine Staatspolitik benutzt", schreibt Fair. "Wenn dies eines der 'safe houses' war, dann wäre Osama bin Laden sicher vor Nachforschungen gewesen."
Die Beispiele verdeutlichen das Kernproblem, das sich durch den gesamten Text mit seinen zahlreichen Behauptungen zieht. Ob es sich so zugetragen hat oder nicht, bleibt letztlich dem Urteil und dem Glauben des Lesers überlassen. Schlagende Beweise gibt es nicht. Für einen Pulitzer-Preisträger und Anschuldigungen dieser Tragweite ist das zu wenig.