Biotop oder Industrie in Tschernobyl?
26. April 2016Die Idee ist nicht neu. Schon vor zehn Jahren schlug das Institut für Zoologie und Botanik der ukrainischen Akademie der Wissenschaften vor, in der 30-Kilometer-Sperrzone ein Naturschutzgebiet zu schaffen. Das Parlament unterstützte die Idee, worauf das Umweltministerium mit den lokalen Behörden und der staatlichen Agentur zur Verwaltung der Sperrzone alle Fragen zu Grund und Boden regelte.
Zugleich wurde damals entscheiden, dass das Industriegebiet in einem Umkreis von fünf bis zehn Kilometern um das AKW nicht Teil des Reservats werden soll. Vor einem Jahr entwarf das Umweltministerium für den Präsidenten einen Erlass, der vorsieht, ein Biosphärenreservat einzurichten. "Alle notwendigen Dokumente liegen der Administration des Präsidenten vor", sagte im März die amtierende ukrainische Umweltministerin Anna Wronska. Unterzeichnet ist der Erlass aber immer noch nicht.
Behörden sperren sich
Der Leiter des Ukrainischen Ökologie-Zentrums, Jaroslaw Mowtschan, sagte der Deutschen Welle, die Einrichtung des Naturreservats verzögere sich, weil die Behörden es sich in einer solchen Größe einfach nicht vorstellen könnten. "Die meisten Reservate in der Ukraine sind nicht größer als 20.000 bis 30.000 Hektar, und hier sollen es gleich 227.000 werden", so Mowtschan.
Er vermutet zudem, dass Industrieunternehmen nicht bereit sind, Flächen, darunter Wälder, Felder und Sümpfe, der Natur zu überlassen. Auch die Verwaltung der Sperrzone fürchte Verluste durch die Einrichtung eines Reservats. So wolle beispielsweise ein Unternehmen dort Rapsöl für die Industrie produzieren. "Es gibt in anderen Teilen der Ukraine Millionen Hektar Land. Man kann auch in der Nähe von Dnipropetrowsk oder Lwiw Raps anbauen. Es besteht keine Notwendigkeit, in die Sperrzone zu gehen, die mit Radionukliden kontaminiert ist, an manchen Stellen so stark, dass man dort in den nächsten 100 oder sogar 1000 Jahren nichts anfangen kann", sagte Mowtschan.
Fabriken oder Natur?
Beunruhigt sind Umweltschützer auch, weil der ukrainische Minister für regionale Entwicklung, Hennadij Subko, vor kurzem erklärt hat, man wolle die Sperrzone verkleinern. Die so gewonnenen Flächen könnten künftig für erneuerbare Energien genutzt werden. Hinter solchen Äußerungen stehen Interessen von Unternehmern, vermutet Hryhori Martschuk vom ukrainischen Umweltministerium. Er ist überzeugt, dass die Sperrzone aufgrund ihrer Waldflächen für Sonnenkollektoren ungeeignet ist. Im Gespräch mit DW wies Martschuk darauf hin, dass es auch noch andere Zukunftspläne für die Zone gibt: "Man will dort mit einer Holzverbrennungsanlage Strom erzeugen."
Serhij Paskewytsch vom Institut für AKW-Sicherheitsfragen der ukrainischen Akademie der Wissenschaften hält den Aufbau erneuerbarer Energiequellen oder Wirtschaftsaktivitäten in der Sperrzone überhaupt für unrentabel. "Für die Rekultivierung kontaminierter Böden und die Sanierung der Verkehrsinfrastruktur sind gewaltige Mittel nötig. Zudem muss die Strahlenbelastung des Personals und des gesamten Geräts ständig kontrolliert werden. Man sollte die Wirtschaft in sicheren Gebieten ausbauen, wo Menschen leben und Infrastruktur vorhanden ist", so Paskewytsch.
Reservat unter dem Schutz der UNESCO
30 Jahre nach dem GAU ist im Ökosystem der Sperrzone praktisch ohne menschliches Eingreifen wieder ein natürliches Gleichgewicht entstanden. Dort leben Hunderte Elche und Hirsche, Tausende Rehe und Wildschweine, eine große Herde von Przewalski-Pferden sowie Wölfe und Luchse. Dem Ökologen Jaroslaw Mowtschan zufolge könnte man zusammen mit dem Naturreservat auf weißrussischer Seite ein internationales UNESCO-Biosphärenreservat schaffen.
Die wissenschaftlichen Aktivitäten dort könnten von der Global Environment Facility separat finanziert werden. Es wäre auch gut, so Mowtschan, wenn europäische Umweltschutzorganisationen sich für ein Biosphärenreservat stark machen würden. "Entweder schaffen wir dort Chaos mit Rodungen und schlecht kontrollierten Wirtschaftsaktivitäten, oder es entsteht ein Naturschutzgebiet, was der Ukraine, Europa und der Welt viel größeren Nutzen bringen würde", unterstrich der Wissenschaftler.