Regieren die Islamisten Pakistan?
4. November 2018Als Premierminister Imran Khan sich am 31. Oktober in einer Fernsehansprache an die pakistanische Nation wandte, warnte er die Islamistenpartei Tehreek-e-Labaik Pakistan (TLP) davor, sich mit der Staatsmacht anzulegen. An dem Tag hatte das Oberste Gericht die pakistanische Christin Asia Bibi vom Vorwurf der Gotteslästerung freigesprochen. Zwei vorgelagerte Instanzen hatten sie zum Tode verurteilt.
Viele in Pakistan schöpften daraus die Hoffnung, die Regierung würde entschlossen gegen etwaige Agitationen der TLP vorgehen. Doch einen Tag später reiste Premier Khan nach China, und die eilig mobilisierten TLP-Anhänger legten die drei größten Städte des Landes lahm: Sie blockierten Straßen und Autobahnen, randalierten und beschädigten privates und öffentliches Eigentum.
Pakt mit den Islamisten
Die TLP-Parteiführer erklärten die Richter, die das Todesurteil aufgehoben hatten, zu Ungläubigen und forderten ihre Anhänger auf, sie zu ermorden. Sie riefen das Militär zum Aufstand gegen General Qamar Javed Bajwa auf; die Soldaten sollten den Armeechef absetzen. Drei Tage dauerten die Proteste, dann kapitulierte Khans Regierung vor den Islamisten und ließ sich auf ein fragwürdiges Abkommen ein.
Demnach sollte die TLP ihre landesweiten Proteste beenden - was sie umgehend tat. Im Gegenzug sollte die Regierung inhaftierte Protestteilnehmer ohne Anklage freilassen, ein angestrebtes Berufungsverfahren gegen Bibi nicht blockieren und sie soll die weiterhin inhaftierte Bibi daran hindern, das Land zu verlassen.
Todesdrohungen gegen Freigesprochene
Dieser letzte Teil des Abkommens könnte für Bibi der kritischste werden. Ihr Ehemann Ashiq Masih sagt, die Familie erhalte seit Jahren Todesdrohungen: "Wir sind nirgendwo sicher und ändern ständig unseren Aufenthaltsort", sagte Masih im Interview mit der DW.
Seit dem Freispruch richten sich die Mordaufrufe der Extremisten auch gegen Bibis Anwalt Saif-ul-Mulook. Der setzte sich offenbar am Samstagmorgen nach Europa ab, weil, wie er mitteilte, auch seine Frau bedroht werde.
Islamisten drohen Regierung
"Die Regierung hat zugesagt, das Abkommen binnen 100 Tagen umzusetzen", sagte TLP-der Sprecher Pir Ejaz Shah. "Wenn sie das nicht tut, gehen unsere Aktivisten wieder auf die Straße."
Im Gespräch mit der DW dementierte er auch, dass TLP-Spitzenmann Pir Afzal Qadri sich dafür entschuldigt habe, dass er das Militär kritisiert hatte. Vielmehr, so Shah, hätten sich Regierungsmitglieder sich bei der TLP dafür entschuldigt, dass das Urteil des Obersten Gerichts die Gefühle der Muslime verletzt habe.
Historisches Urteil
Die Christin aus der östlichen Provinz Punjab war im Juni 2009 festgenommen worden, nachdem Nachbarn sich beschwert hatten, sie habe abwertende Bemerkungen über den Propheten Mohammed gemacht. Ein Jahr später wurde Bibi - gegen großen Widerstand nationaler und internationaler Menschenrechtsgruppen - wegen Blasphemie zum Tode verurteilt. Der Oberste Gerichtshof hat dieses Urteil nun aufgehoben und Bibi wegen erheblicher Zweifel an der Plausibilität der Vorwürfe freigesprochen.
"Es ist ein historisches Urteil, und es wird helfen, die Harmonie zwischen den Religionen voranzubringen", sagte Ayub Malik, Politikanalyst in Islamabad, der DW. "Bibis Fall zeigt, wie die meisten Blasphemiefälle in Pakistan konstruiert werden."
Der Menschenrechtsaktivist Farzana Bari sagte der DW: "Es ist ein Leuchtturm-Urteil. Die Richter und Anwälte haben großen Mut gezeigt. Aber der Test für die Regierung beginnt erst jetzt - mit der Reaktion der Extremisten."
Geschwächter Staat
Bei genau diesem Test ist Khans Regierung nun offenbar durchgefallen. Die Kürze der Zeit, in der die offiziellen Machthaber eingeknickt sind, verstört und ängstigt Pakistans Demokraten.
"Mit dem Abkommen hat die Regierung ihre Autorität extrem geschwächt", sagt Ali K. Chishti, ein Sicherheitsanalyst aus Karatschi, der DW. "Der Schritt wird Pakistan weiter destabilisieren, und es werden noch mehr Gruppen wie die TLP den Staat erpressen."
Auch der in den Niederlanden lebende pakistanische Blogger Waqas Ahmed Goraya meint, die Regierung habe "ihre Autorität verloren": "Wie reagiert denn der pakistanische Staat, wenn sich der TLP-Chef Khadim Rizvi morgen zum Kalifen erklärt und seine Leute auf die Straße schickt?", fragt Goraya. "Alle staatlichen Institutionen haben die Konfrontation mit den islamistischen Protestlern gemieden. Die Kapitulation wird die Islamisten noch mächtiger und widerstandsfähiger machen."
Pakistans internationale Isolation
Khalid Hamees Farooqi, ein pakistanischer Journalist in Brüssel, weist auf die widersprüchlichen Signale, die Pakistan derzeit sendet: Während man in den diplomatischen Kreisen Europas das Urteil des Obersten Gerichts bejubelte, hat das Abkommen zwischen Regierung und Islamisten den Ruf des Landes beschädigt.
"Die Regierenden in Pakistan müssen begreifen, dass solche Aktionen Pakistans internationale Isolation verstärken", sagte Farooqi der DW.
Die Zukunft für "Blasphemieopfer"
Offen bleibt die Frage, ob die Regierung Bibis Ausreise tatsächlich verbieten und verhindern wird. Zahid Gishkori, Journalist in Islamabad, glaubt das nicht. Er vermutet, dass die Regierung versucht, Zeit zu gewinnen: "Nur das Oberste Gericht oder die Regierung könnte das verfügen. Und ich glaube nicht, dass Premierminister Khan das tun wird. Ich sehe auch nicht, dass die Berufung vor dem Obersten Gericht Erfolg hat, schließlich war es ein einstimmiges Urteil."
Auch Analyst Chishti glaubt nicht, dass die Regierung ihre Ausreise verhindern werde. Chishti vermutet, dass Bibi sich derzeit in der Botschaft eines befreundeten Landes aufhalten und dort auf ihre Papiere warten dürfte. Offiziell befindet sie sich weiterhin im Gefängnis. In jedem Fall aber habe die Regierung versagt: "Für andere Blasphemieopfer wird das Leben nun noch schwerer. Die Regierung hat einmal mehr vor Fanatikern kapituliert."
Experten fürchten, Pakistan steuere geradeaus in noch mehr Chaos, nachdem der "Vater der Taliban" Maulana Samiul Haq am Freitag von Unbekannten in Rawalpindi ermordet wurde.