Blindwalk – Stadtführung der besonderen Art
8. November 2011Ausführlich und genau erklärt Tourguide Axel Rudolph, wie die Teilnehmer des Blindwalks die Augenmaske anlegen sollen. "Man könnte auch Schlafbrille sagen, aber ich finde Augenmaske ein besseres Wort. Man soll ja nicht einschlafen, sondern man tut was für sich selber mit dem Blindwalk. Und deswegen ist mir der Ausdruck aus dem Wellnessbereich eigentlich lieber", erklärt der Erfinder des Blindwalks. Und dann hilft er den Teilnehmern, ihre Brillen richtig aufzusetzen. Denn erkennen können sollen sie ja nichts, wenn sie Köln in kompletter Dunkelheit erleben wollen.
Rudolph hat seit jeher eine große Affinität zu Erfahrungen, in denen die Teilnehmer auf ihr Augenlicht verzichten müssen. Der 55-Jährige ist Experte für Akustikdesign und installierte zuerst dunkle Räume, in denen Sehende von Blinden durch die Installation mit Tastobjekten geführt wurden. "Dialog im Dunkeln" nannte sich das treffend. Ein paar Jahre spätere eröffnete er das erste Dunkelrestaurant Deutschlands, in der Blinde und Sehbehinderte den Gästen die Speisen in völliger Finsternis servieren. "Jetzt verbinde ich diese beiden Konzepte und bringe sie mit dem Blindwalk in die echte Welt." Die Idee sei, die geschützten dunkeln Räume zu verlassen und Dunkelheit im normalen Leben erfahrbar zu machen, sagt Rudolph.
Kommunikation mit Clip im Ohr und Mikrofon
Um Punkt 15 Uhr geht es los auf die ungefähr 1,2 Kilometer lange Tour. Ausgangspunkt ist das Museum Ludwig in Köln, unweit von Dom und Hauptbahnhof gelegen. Ein Clip steckt bei allen Teilnehmern im Ohr, darüber kommuniziert der Tourguide via Mikrofon mit den "Blindwalkern". Er gibt Informationen, warnt vor Hindernissen oder kündigt Richtungswechsel an. Die Teilnehmer halten sich an den Rucksackschlaufen ihres jeweiligen Vordermanns fest und gehen dicht hintereinander.
Die ersten Schritte sind etwas unsicher. Vorsichtig tapst man auf dem Asphalt blind dem Stadtführer hinterher und bemüht sich, die Rucksackschlaufen des Vordermanns nicht los zu lassen. Intensiv nimmt man die Geräusche der Umgebung wahr. Viel bewusster als sonst. Auch für die Teilnehmerin Lydia Kieven ist das erst einmal eine Erfahrung der besonderen Art. "Ich tappere so ein bisschen vorsichtig mit den Füßen auf und achte auch ziemlich auf den Weg, denn es könnte ja sein, dass hier irgendwo Hubbel sind."
Als der Kölner Bahnhof nach San Francisco Harbour klang
Langsam nähern wir uns dem Bahnhof, die Geräusche der anfahrenden oder bremsenden Züge werden immer intensiver, je näher wir dem Bahnhof kommen. Rudolph macht Halt und platziert die Teilnehmer wie auf einem Balkon, damit sie die Geräusche aus der halboffenen Bahnhofshalle gut wahrnehmen können. Wegen dieser offenen Halle sei das Klangbild des Kölner Bahnhofs auch anders als die Geräusche von anderen Bahnhöfen, erklärt Rudolph. "Vor 20 Jahren waren die Geräusche des Kölner Hauptbahnhofs auch Gegenstand einer Klanginstallation von Bill Fontana. Damals wurden die Geräusche vom Kölner Bahnhof aufgenommen und per Satellit nach San Francisco übertragen und dort abgespielt." Dafür konnte man in Köln die Geräusche des Hafens von San Francisco und das Rauschen des Wassers hören, die sich mit den Lärm des Bahnhofs vermischten, erzählt Rudolph.
Der Dom riecht nach Keller
Mittlerweile haben wir den Bahnhof und den Bahnhofsvorplatz hinter uns gelassen und bewegen uns weiter. Fast kommt schon Routine auf beim Gehen in der Dunkelheit. Als "Blindwalker" taucht man ein in eine völlig andere Welt: Geräusche überfluten die Sinneswahrnehmung. Auf einmal klingt es, als wäre man mittendrin in einem Live-Hörspiel. Das Gehirn arbeitet und produziert Bilder: wie es wohl gerade aussehen könnte in der Umgebung, durch die momentan blind wandert. Auf der Domplatte - der Freifläche vor dem Kölner Dom - scheint den Teilnehmern die Sonne direkt ins Gesicht. "Es ist jetzt auch etwas heller vor den Augen", ruft eine "Blindwalkerin".
"Ein Besuch des Kölner Doms darf natürlich nicht fehlen. Also biege ich links ab Richtung Dom-Haupteingang. Wenn wir jetzt durch die Tür gehen in den Dom rein, dann müsstet ihr näher zusammen rücken. Vielleicht so, dass ihr die Oberarme so fast aneinander habt", warnt Rudolph die Teilnehmer, weil es jetzt gleich durch das enger werdende Domportal geht.
Im Dom angekommen spürt man die Weite des Raumes, die Kälte der Mauern und Steine. Die Besucher des Doms sind kaum zu hören. Fast keiner redet. Ein Teilnehmer flüstert: "Ich rieche den Weihrauch, kann das sein?" Rudolph führt uns an den Kerzen entlang, damit wir die Wärme spüren, die von ihnen ausgeht. "Ich finde hier riecht es immer etwas nach Keller", sagt er, und ich muss unwillkürlich nicken.
Picknick im Dunkeln
Auf dem Weg hinaus spüren wir wieder den Sonnenschein, ohne ihn wirklich sehen zu können. Am Römisch-Germanischen Museum angelangt, betasten die Teilnehmer die draußen vor dem Gebäude aufgestellten Skulpturen und Sarkophage.
Danach lässt sich die Gruppe auf einer Bank zum Picknick nieder. Es gibt Trauben, Tee, Croissant, Ei und Tomate. Und im Dunkeln ist das Geschmackserlebnis ein anderes: Man isst bewusster und nimmt die unterschiedlichen Lebensmittel intensiver wahr. Und trotz der Dunkelheit erkennen die Kölner Teilnehmer des Blindwalk Einiges von ihrer Stadt wieder:
Etwa die "Liebesschlösser", die auf der Hohenzollernbrücke am Sicherheitszaun zwischen Fußweg und Bahngleisen hängen. Die Idee Verliebter, als Symbol ihrer Liebe an einem geeigneten Ort ein Vorhängeschloss anzuhängen, stammt aus Italien.
Einmal habe er er ein US-amerikanisches Pärchen unter den Teilnehmern gehabt, erinnert sich Rudolph, das sich voll auf die neue Erfahrung des Stadtrundgangs im Dunkeln eingelassen habe. "Die haben daraus geschlussfolgert, dass es in Köln anders ist als in anderen Städten, und dass Köln eine lustige Stadt ist“, berichtet Rudolph von seinen Erfahrungen mit ausländischen Teilnehmern.
Langsam geht es wieder zurück in die Normalität
Am Ufer des Rheins haben wir schließlich das Ende unserer Tourroute erreicht. Langsam nehmen wir die Augenmasken ab und blinzeln vorsichtig in die Sonne. Etwas verloren und orientierungslos schauen sich die Teilnehmer um. Es ist ungewohnt hell nach der Zeit in der Dunkelheit, die Sonne scheint einem direkt ins Gesicht. "Die Leute sind immer nachdenklich am Ende der Tour", sagt Rudolph. "Sie fragen sich, was lasse ich in meiner Wahrnehmung im Alltag aus? Was habe ich hier auf dieser Route wahrgenommen, was ich sonst nicht wahrnehme?"
Unsicher und fast so tappsig wie am Anfang mit verbundenen Augen setzten wir nun wieder selbstständig und sehend einen Fuß vor den anderen. Bis wir wieder komplett in der Welt des Sehens angekommen sein werden, wird es noch zwei Stunden dauern.
Autor: Arne Lichtenberg
Redaktion: Hartmut Lüning