Blüm: "Rückfall oder Fortschritt?"
27. Juni 2018Deutsche Welle: Das Verhältnis zwischen CDU und CSU scheint am Tiefpunkt. Was denken Sie denn zurzeit beim Anblick der Union?
Norbert Blüm: Dass die CDU als Volkspartei alle konfessionellen, sozialen Grenzen überwunden hat, ist ein großes Glück - nicht nur für die CDU, sondern für unsere Republik. Es hat uns viel Parteiengezänk erspart, das man ja sonst in ganz Europa besichtigen kann. Wenn man das aufgeben will, sind die Erfahrungen der Nachkriegszeit verschenkt. Insofern ist es keine Frage unter tausend anderen, sondern eine elementare Frage: Negieren wir die Erfahrungen, die wir aus der Geschichte der Bundesrepublik gezogen haben? Der größte historische Beitrag der CDU war ein Europa, das nicht mehr durch Grenzen getrennt wird. Vielleicht werden es die Leute erst verstehen, wenn dieses Geschenk zurückgegeben wird.
Sie sprechen die von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) geplante Abweisung von Migranten an den deutschen Grenzen an. Wie bewerten Sie denn die Flüchtlingspolitik der CSU?
Wir haben jetzt seit 73 Jahren Frieden. Nun wollen wir wieder zurück zu den Grenzen. Doch wie sollen Grenzen die großen Probleme der Erde lösen? Die Klimafrage, den grenzenlosen Finanzkapitalismus, die Flüchtlingsfrage? Was wir jetzt erleben, ist ja nur ein Vorgeschmack. Wenn sich die Hungernden und Ausgebeuteten Afrikas auf den Weg machen, gibt es keine italienische oder europäische Wasserschutzpolizei, die sie aufhalten könnte. Und auch die Mauern von möglichen bayerischen Grenzen werden nicht so hoch sein, dass sie den Ansturm abwehren könnten. Das ist einfach kurzsichtig.
Ich kann mir auch kaum vorstellen, wie die Bayern die Grenzen sichern wollen. Es gibt alleine 90 Übergänge zu Österreich. Wollen die auf der Zugspitze eine Mauer bauen? Die Touristen und Pendler werden staunen, was die bayerische Flüchtlingspolitik bewirkt. Der Rückstau von Kiefersfelden wird wahrscheinlich bis ins Münchner Hofbräuhaus reichen.
Es wäre historisches Versagen, wenn wir jetzt nicht aufwachten. Wie soll denn der nationale Schrebergarten das Problem lösen? Wenn es nur noch ums Geld zählen geht, hat Europa keine Existenzberechtigung mehr. Die Existenzberechtigung gäbe es, wenn Europa ein globaler Ordnungsfaktor wäre. Aber wir spielen in der Welt doch gar keine Rolle mehr.
Also steht Europas Zukunft auf dem Spiel?
Die Flüchtlingsfrage können wir nur europäisch lösen. Und wenn 500 Millionen Europäer nicht fünf oder zehn Millionen Flüchtlinge aufnehmen können, dann sollen sie den Laden schließen. Dann hat es sowieso keine Zukunft mehr. Bei dieser Frage geht es um die Existenz. Das ist nicht irgendeine herkömmliche politische Streitigkeit. Es geht um die Frage: Rückfall oder Fortschritt?
Natürlich kann es nicht sein, dass nur Deutschland die Flüchtlinge aufnimmt. Wer mit europäischem Geld Autobahnen baut, muss auch da sein, wenn Lasten zu verteilen sind. Rosinenpickerei geht nicht. Europa muss aufwachen. Ich brauche keine Kommission, die den Krümmungsgrad von Gurken festlegt. Ich brauche Europa für die großen Fragen. Die Flüchtlingsfrage ist ja nur die Folge, nicht die Ursache. Die Ursache ist das Elend auf der Welt. Wir werden die nächsten 30 Jahre nicht friedlich überleben, wenn nicht die Kluft zwischen Arm und Reich überwunden wird.
Kohls Idee von Europa steht also auf der Kippe?
Ich war zehn Jahre alt bei Kriegsende. Ich weiß, wie deutsche Städte damals ausgesehen haben. In der Nachkriegszeit, wo es auch ums Überleben ging, wurde über Europa nachgedacht. Diese Nachkriegsgeneration hat Europa geschaffen. Ein paar Jahrzehnte später sitzen wir in unseren warmen Häuschen und verspielen dieses Erbe.
Jetzt haben Sie ja auch schon angedeutet: Bündnisse scheinen nicht mehr richtig zu funktionieren?
Das ist ja wie eine Epidemie: Überall bricht der Nationalismus aus - in Polen, Ungarn, Slowakei, in den USA. Offensichtlich hat die Welt den Verstand verloren. Gibt es keine Geschichtskenntnis darüber, was Nationalismus alles bewirkt hat? Zu glauben, man könnte wieder nationale Schranken errichten: Jede Drohne überwindet einen Schrebergarten-Zaun, Digitalisierung lässt sich nicht regional eingrenzen. Wir leben nicht mehr im Postkutschen-Zeitalter.
Genau in dieser unruhigen Zeit scheint es, als ob die Position von Merkel geschwächt wird...
Das finde ich eine große politische Dummheit. Denn so wird unsere Position in Europa nicht stärker. Und wenn ein Land von Europa Vorteile hat, dann ist es Deutschland.
Wenn ich in der bayerischen Landesregierung wäre, würde ich mich in der ganzen Welt damit brüsten, wie die Bayern die Flüchtlinge aufgenommen haben. Es gab kein Land in ganz Europa, wo die Menschen so über ihren Schatten gesprungen sind. Da kann doch Bayern stolz darauf sein.
Jetzt sind laut aktuellen Umfragen die Zustimmungswerte für die CSU heruntergegangen. Glauben Sie denn, das könnte den Kurs ändern?
Ich hoffe es. Viele denken: Das ist ein Streit, wie wir ihn schon oft hatten. Doch das stimmt nicht. Es geht um die Zukunft und um Europa. Wenn Deutschland nicht regierungsfähig ist, dann fürchte ich, dass dieses altersschwache Europa wieder in einen Schrebergarten von nationalen Egoismen zusammen fällt.
Haben Sie denn das Gefühl, dass bei dieser ganzen Diskussion um Migration andere Politikfelder, die eigentlich auch wichtig wären, in den Hintergrund treten?
Ja, zum Beispiel meine Sozialpolitik. Trotzdem kann ich nicht sagen, dass wir die Flüchtlingspolitik vergessen sollten. Wenn wir die Flüchtlingspolitik nicht lösen, werden wir die Bildungsfragen nicht lösen, genauso wenig wie die Alters- oder Krankenversicherungsfragen. Wenn unser Land in Turbulenzen gerät, wenn Trump die Welt in Flammen steckt, dann brauchen wir uns nicht über das Rentenniveau zu unterhalten. Dann müssen wir uns über das Überleben unterhalten
Nochmal zum Zustand der Union. Sie haben jetzt ein relativ düsteres Bild gezeichnet. Wie könnte sie sich denn retten?
Das hört sich pathetisch an, aber: Hilfreich wäre eine Besinnung auf die christlichen Grundsätze. Nicht, dass sie die Probleme lösen. Aber sie zeigen doch die Perspektive an.
Norbert Blüm (CDU) war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. Heute hat er sich aus der aktiven Politik zurück gezogen, ist aber bei verschiedenen Hilfsorganisationen engagiert.
Das Interview führte Stephanie Höppner.