Ganz hinten in der Impfstoff-Schlange
29. Januar 2021An dem Tag, an dem Impf-Weltmeister Israel seine Impfquote auf über 50 Prozent steigert und der Konflikt zwischen der Europäischen Union und dem Pharmakonzern AstraZeneca um die Lieferungen von 80 Millionen Impfdosen im ersten Quartal in die nächste Runde geht, feiert Bolivien die Ankunft eines Flugzeuges so, als wäre der Papst höchstpersönlich an Bord.
An diesem Donnerstag landet eine Maschine der Boliviana de Aviación mit den ersten Impfdosen für das südamerikanische Land an Bord: 20.000 Vakzine des russischen Impfstoffes Sputnik V. Präsident Luis Arce erklärt feierlich, dies sei ein erster Schritt, um das Coronavirus 2021 endgültig aus Bolivien hinauszuwerfen.
Bei Fernando Patiño will dagegen keine rechte Feierstimmung aufkommen. "Die 20.000 Dosen sind für das, was wir brauchen, einfach viel zu wenig", sagt der Arzt aus La Paz, der in früheren Jahren an der Johns-Hopkins Universität in den USA geforscht hat. Am Freitag begann Bolivien als 56. Land auf dem Globus zu impfen - die Ärzte auf den Intensivstationen in den Metropolen La Paz und Santa Cruz bekamen die ersten Spritzen.
Reiche Bolivianer fliegen nach Miami zum Impfen
Patiño hat aber vor allem die Zahlen der Coronafälle im Blick - und die schießen in Bolivien, wahrscheinlich in Verbindung mit den Feiern zu Silvester, wieder kräftig in die Höhe. 2866 Fälle am Mittwoch waren der neue Rekordwert, über 10.000 Menschen sind in Bolivien bereits in Verbindung mit dem Coronavirus gestorben.
"Bolivien hatte nie eine Strategie bei der Corona-Pandemie. Vor allem weil der Präsident früher Wirtschaftsminister war und von Gesundheit keinen blassen Schimmer hat", kritisiert Patiño, "und bei der Planung für die Impfungen geht es weiter. Es wurde schon mehrfach von der Regierung versprochen, dass wir bis März Impfdosen für die gesamte Bevölkerung hätten."
Die Bolivianer, die es sich leisten können, gehen da lieber auf Nummer Sicher. Die bolivianische Oberschicht setzt sich derzeit massenweise ins Flugzeug Richtung Miami, um in den USA die begehrte Spritze zu erhalten. Währenddessen ließen allein in La Paz in diesem Monat mehr als 20 Intensivärzte wegen COVID-19 ihr Leben.
In sozialen Medien wird Stimmung gegen Sputnik gemacht
Darunter waren auch einige frühere Kollegen und Freunde von Guillermo Cuentas, der Ende der 1990er Jahre zum Gesundheitsminister Boliviens aufstieg. Noch heute hat seine Stimme Gewicht, und deshalb warnt er ununterbrochen vor Falschinformationen, die derzeit über die sozialen Medien in Bolivien verbreitet werden. "Einige schrecken auch nicht davor zurück, wegen der mangelnden Transparenz Russlands in Bezug auf den Impfstoff den Vergleich zu Tschernobyl zu ziehen."
Cuentas lobt ausdrücklich die Kooperation der bolivianischen mit der argentinischen Regierung bezüglich des Transports der 20.000 Impfdosen, die von Moskau über Buenos Aires nach La Paz gelangten. Doch die Euphorie über den Impfstoff wich schnell der Diskussion, wer sich den Erfolg ans Revers heften kann.
"Die aktuelle Regierung Arce wirft ihren Vorgängern die Verzögerung vor und verkauft die 20.000 Impfdosen als ihren Erfolg, die Vorgängerregierung Añez kontert wiederum, sie hätte die Bestellung perfekt vorbereitet und die aktuelle Regierung würde den Sputnik-Impfstoff ideologisieren", sagt Cuentas.
Fehlende Impfdosen über die Covax-Initiative der WHO
Die bolivianische Rechnung gegen das Coronavirus scheint jedenfalls einfach: für die 11,6 Millionen Einwohner braucht man etwa 7,6 Millionen Geimpfte, um die Herdenimmunität zu erreichen. Da jeder zweiei Impfungen erhalten muss, macht das insgesamt 15 Millionen Impfdosen. 5,2 Millionen Dosen liefert Russland mit Sputnik V, zehn Millionen kommen von AstraZeneca.
Was wie die perfekte Gleichung aussieht, hat jedoch eine Unbekannte: Denn nur die Hälfte des britisch-schwedischen Impfstoffes hat Bolivien gekauft. Die anderen fünf Millionen Dosen will das südamerikanische Land über die Covax-Initiative der Weltgesundheitsorganisation beziehen.
Covax steht für "COVID-19 Vaccines Global Access". Die Initiative, der 190 Staaten weltweit beigetreten sind, will einen weltweit gleichmäßigen und gerechten Zugang zu den Impfstoffen gewährleisten. So sollen auch die ärmsten Menschen in den Entwicklungsländern so früh wie möglich gegen COVID-19 geimpft werden.
Globale Pandemie nur global lösbar
"Wir sind vor COVID-19 nur geschützt, wenn Menschen weltweit Zugang zu dem Impfstoff haben", sagt Maike Voss, Gesundheitsexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, "je länger wir brauchen, um den Impfstoff global zu verteilen, je länger haben wir auch mit den Folgen der Pandemie zu tun."
Dass Corona eine globale Pandemie ist, die man auch nur global lösen kann, scheinen einige Länder jedoch schon vergessen zu haben. Der tägliche nervöse Blick auf die internationalen Impfquoten ähnelt dem Betrachten des Medaillenspiegels bei den Olympischen Spielen.
Die Medien überschlagen sich mit Lob für den Impf-Champion Israel, dass Paraguay, Haiti oder Guatemala hingegen noch keine einzige Impfdose bekommen haben, findet kaum Beachtung.
Reiche Länder unterstützen und umgehen Covax
Verteilungsfragen sind aber auch immer Machtfragen, kritisiert Voss. "Schon frühzeitig haben sich reiche Staaten entschieden, Covax zwar finanziell zu unterstützen, aber Impfstoffe direkt bei den Herstellern zu beziehen. Damit wurde Covax umgangen und reiche Länder konnten sich schneller und mit mehr Kaufkraft Impfstoffdosen sichern."
Bis Ende 2021 sollen mindestens zwei Milliarden qualitätsgesicherte und bedarfsgerechte Impfstoffdosen bereitstehen, um die akute Phase der Pandemie zu beenden - so das erklärte Ziel von Covax. Darunter sind auch die Vakzine für Bolivien.
Bis dahin ist es jedoch noch ein weiter Weg. Europäische Länder könnten Covax jetzt auf drei Arten unterstützen, sagt die Gesundheitsexpertin: "Erstens Covax vollständig zu finanzieren, zweitens humanitäre Impfstoffkontingente für Menschen in Krisengebieten und auf der Flucht aufzubauen und drittens überschüssige Impfstoffdosen an Covax oder an Partnerländer zu spenden."