Bolt-Fieber im Jamaika-Viertel
9. August 2012Man sieht ihn überall: Auf T-Shirts. Auf Postern. Auf Plakaten. Usain Bolt lächelt cool auf die Kundschaft herab, die sich um die Marktstände des Brixton Markets drängt. Der schnellste Mann der Welt verkauft sich gut hier. Und er sorgt für gute Laune in dem etwas schäbigen Viertel im Süden Londons.
Hierhin verirren sich nur selten Touristen. Brixton steht nicht unbedingt in jedem Londoner Reiseführer. Und wenn, dann oft mit dem Zusatz: Vorsicht, Taschendiebe! Hier fanden 1981 die "Brixton Riots" statt, die blutigen Straßenschlachten zwischen Polizei und Einwohnern afro-karibischer Herkunft. Auch im letzten Jahr brannten hier Autos. Brixton ist alles andere als "very british": Sobald man die Endhaltestelle der U-Bahn-Linie Victoria verlässt, kommt man in eine andere Welt. Hier findet man die Karibik – mitten in London.
Hauptsache gelb-grün-schwarz
Brixton bildet das Londoner Zentrum für Zuwanderer aus Jamaika. Die ersten kamen 1948 mit dem Schiff, heute hat sich die jamaikanische Gemeinde dort etabliert. Und das merkt man sofort: Fotos von Bob Marley und coole Typen mit Rastalocken. Gelb-grün-schwarze Fahnen und Flaggen, wohin man schaut. Dazu schwängern karibische Düfte und Reggae-Klänge die Luft. Der Brixton Market liegt in der Electric Avenue, nur eine Straße von der U-Bahn-Station entfernt. Hier reiht sich ein Stand an den nächsten, bunte Gewänder flattern im Wind, hier bekommt man täglich frisches Obst, Fleisch und Gemüse.
Doch in diesen Tagen ist es anders als sonst: Viele haben ihr Radio mitgebracht oder einen kleinen Fernseher aufgehängt. Denn tagsüber qualifizieren sich am anderen Ende der Stadt die schnellsten Athleten der Welt für die Endläufe bei den Olympischen Spielen. Das muss man ja mitbekommen. Denn die schnellsten Menschen der Welt kommen aus Jamaika. "Usain Bolt hat gerade den Vorlauf über die 200 gewonnen", berichtet ein Händler stolz und ahmt die Siegerpose des Olympiasiegers nach. "Aber er hat sich ja nur warmgelaufen. Im Finale ist er schneller."
Jamaikanische Nacht im Pub
Die Karten für das Stadion sind zu teuer und schwer zu haben. In der Innenstadt Londons gibt es immerhin ein offizielles Jamaika-Haus, wo am 6. August der 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Jamaikas gefeiert wurde und täglich Public Viewing angeboten wird. Doch dort zieht es die Leute aus Brixton nicht hin. Sie bleiben lieber unter sich, in ihrem Viertel, wo es bis 2004 den "Jayday" gab, ein jährliches Cannabisfest. Und wo sogar mit dem "Brixton Pound" eine eigene Währung eingeführt wurde. Hier kennt man sich. Hier vertraut man sich.
Und so treffen sich die sportbesessenen Jamaikaner regelmäßig abends, wenn der Markt schließt, zum Olympia-Gucken. "Mit Freunden und viel Bier", erklärt ein anderer Verkäufer. Er bleibt am liebsten im eigenen Wohnzimmer. Doch es gibt auch einen Pub, der fest in jamaikanischer Hand ist. Beim 100-Meter-Finale platzte er aus allen Nähten. Schon tagsüber sitzen hier die ersten – stilecht mit Sonnenbrille und in den Nationalfarben gekleidet.
Hier wird es auch beim 200-Meter-Rennen der Männer wieder voll werden. "Bolt gewinnt, da wette ich drauf", meint der eine. Der andere sagt: "Oder Yohan Blake." Ganz egal – Hauptsache, die gelb-grün-schwarze Flagge weht wieder ganz oben bei der Siegerehrung. Darauf sind sie sehr stolz in Brixton. Ihre großen Idole sind in diesen Tagen nur wenige Kilometer entfernt im Osten der Stadt. Doch das macht keinen Unterschied zu den Spielen vor vier Jahren in Peking. Die Superstars sind unerreichbar. Nach Brixton wird einer wie Usain Bolt wohl nie zu Besuch kommen.