Streit über Bürgerrechte und Medien
22. April 2013Ist es ein Kriminalfall oder ein Terrorakt? Die Frage, wie die amerikanische Justiz mit dem mutmaßlichen Attentäter Dschochar Zarnajew umgehen soll, hat in den USA eine hitzige Diskussion ausgelöst. Bei einer Einstufung als Kriminalfall würde die Angelegenheit vor einem Strafgericht verhandelt, als Terrorakt möglicherweise vor einem Militärgericht. Da der Verdächtige Dschochar Zarnajew aber nach Informationen des FBI amerikanischer Staatsbürger ist, wäre eine Verhandlung vor dem Militärgericht nur möglich, wenn er als als "enemy combatant" - als "feindlicher Kämpfer" - eingestuft wird, ähnlich den Terrorverdächtigen, die in Guantanamo festgehalten werden. Allerdings ist es juristisch höchst umstritten, ob amerikanische Staatsbürger überhaupt als "feindliche Kämpfer" behandelt werden können. Doch Senatoren wie John McCain fordern im Falle von Zarnajew genau dies.
Die amerikanische Regierung will offensichtlich das Strafrecht anwenden. Sie will sich nämlich bei der Vernehmung Zarnajews auf die sogenannte "public safety exception" beziehen, die bei Gefahr im Verzug erlaubt, Verdächtigen zeitweise ihre Rechte vorzuenthalten. Zarnajew sollen zunächst nicht seine Rechte vorgelesen werden, die sogenannten "Miranda rights". Die nach einem Rechtsfall von 1966 bezeichneten "Miranda-Rechte" sehen vor, dass jeder Verdächtige unter anderem auf sein Aussageverweigerungsrecht hingewiesen wird und auf die Möglichkeit, einen Anwalt hinzuzuziehen. Erkenntnisse, die vor Verlesung der Rechte gewonnen werden, könnten bei den Ermittlungen verwendet werden, allerdings nicht vor einem Gericht.
ACLU: Verweigerung der Rechte ist "unamerikanisch"
Die Anwälte-Organisation "American Civil Liberties Union" (ACLU) veröffentlichte dazu auf ihrer Website eine kritische Stellungnahme ihres Executiv-Direktors Anthony D. Romero: Darin spricht er sich für eine enge Auslegung der sogenannten "public safety exeption" aus. Sie sei nur anzuwenden, wenn es eine fortgesetzte Bedrohung gebe. Grundsätzlich habe jeder Beschuldigte einen Anspruch, über seine Rechte aufgeklärt zu werden. Eine Verweigerung sei "unamerikanisch".
Wie aus Justizkreisen zu hören war, bereitet das Justizministerium eine Anklage wegen Terrorismus vor. Selbst wenn das Verfahren vor einem zivilen Strafgericht landet, ist noch vieles ungeklärt. Welche Höchststrafe Dschochar Zarnajew droht, hängt davon ab, ob er nach Landes- oder Bundesrecht angeklagt wird: Der US-Bundesstaat Massachusetts kennt keine Todesstrafe, die USA als Staat aber schon.
Er sei nicht sehr glücklich über die Beschreibung der beiden Zarnajew-Brüder als Terroristen, sagt Ralph Begleiter, Direktor des "Center for Political Communication" der Universität Delaware, der Deutschen Welle: "Sie sind nicht mehr Terroristen als jener Täter, der in Newtown Elementary School 26 Menschen erschossen hat. Ich bin nicht sicher, ob ich mit der Trennung der beiden Kategorien von Justiz einverstanden bin."
Überreaktion der Sicherheitskräfte?
In den amerikanischen Medien wird aber auch über das Verhalten der Sicherheitskräfte diskutiert. Mit der provokanten Frage, ob die völlige Lahmlegung einer Millionenstadt nun "neue Normalität" sei, wandte sich das angesehene Online-Magazin "Politico" an seine Leser.
Im Zuge der Fahndung nach den Bombenlegern hatten die Behörden die Bewohner Bostons den ganzen Tag über und abends aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen. Handel und Verkehr kamen zum Stillstand. Kritiker wie der Abgeordnete des Repräsentantenhauses, Dutch Ruppersberger, wenden ein, damit hätten die Terroristen eines ihrer Ziele erreicht. Der frühere Senator Jeff Bingaman sagte laut Politico, es sei kaum vorstellbar, dass es etwas gebe, was es rechtfertigen könne, dass eine ganze Stadt festgesetzt würde.
Medien involviert in Verfolgungsjagd
Auch die Berichterstattung der amerikanischen Medien stößt vermehrt auf Kritik. Nachdem die Sender CNN, Fox News, die Nachrichtenagentur AP und die Zeitung "The Boston Globe" am vergangenen Donnerstag irrtümlich die Festnahme eines Verdächtigen meldeten, sprachen die Sicherheitsbehörden von einer unverantwortlichen Berichterstattung. Zugleich nutzten sie die Medien, um Nachrichten an die Bevölkerung zu platzieren. In der "New York Times" war denn auch vielsagend von einer "komplexen Beziehung" zwischen Verfolgungsorganen und Medien zu lesen. Diese hätten "eins zu eins" an der Verfolgungsjagd teilgenommen - die Zuschauer hätten sogar Schüsse hören und mitzählen können.
Dass es angesichts der Geschwindigkeit der Ereignisse zu Fehlleistungen der Medien komme, ist für Ralph Begleiter vom "Center for Political Communication" der Universität Delaware unvermeidbar. Allerdings bleibe es auch in Extremsituationen unerlässlich, die Informationen zu prüfen, bevor sie weitergegeben würden. Der frühere CNN-Korrespondent hat aber eine grundsätzliche Sorge. Der Informationsfluss sei durch das Internet so enorm gewachsen und so ungesichert, dass der Konsument nicht mehr seinen gesicherten Platz fände. Begleiter: "Das Internet hat vielen Menschen die Möglichkeit gegeben, sich frei zu äußern. Es hat aber auch die Möglichkeit eröffnet, fehlerhafte Informationen und sogar bewusst Falschmeldungen zu verbreiten."