Boualem Sansal: "Man bekämpft Ideen nicht mit Kanonen"
18. November 2015DW: Boualem Sansal, Sie beobachten seit Langem den Islamismus – nicht nur in der muslimischen Welt, sondern auch in Europa. Hat Sie das Ausmaß der Attentate in Paris überrascht?
Boualem Sansal: Nein, überhaupt nicht! Mich wundert es, dass es erst so spät passiert ist. Der internationale Islamismus zieht gegen Europa in den Krieg. Vor allem Frankreich ist seit seinem Einsatz in Syrien im Visier. Jetzt hat der Krieg angefangen und wird auch weitergehen.
Sie haben im August Ihren neuen Roman "2084" veröffentlicht – ein albtraumhaftes Szenario von einem religiösen, totalitären, grausamen Regime, das islamistische Züge trägt. Ich glaube nicht, dass sich die meisten Menschen in der westlichen Welt hätten vorstellen können, dass sich ein solches Szenario hier abspielt. Vielleicht ändern jetzt viele ihre Meinung. Denken Sie, dass es in Europa wirklich ein solches islamistisches Regime geben könnte?
Der Wille dazu ist in jedem Fall da. Und auch das Fundament ist bereits gelegt: schlafende, aber auch aktive Netzwerke und eine ganze Infrastruktur von Moscheen, über Banken und den Handel bis hin zu Bildungseinrichtungen sind da. Sie arbeiten an einer Strategie und ich glaube, das wird jetzt immer schneller gehen, immer stärker werden. Aber es kommt auch darauf an, wie die Europäer reagieren werden. Im Moment reagieren sie eher schlecht.
Dann ist Krieg also keine gute Antwort?
Nein, absolut nicht. Man bekämpft Ideen nicht mit Kanonen. Ganz im Gegenteil. Dadurch verstärkt man sie. Man muss Ideen mit Ideen bekämpfen, mit einer Lebensphilosophie, mit einem neuen Demokratiegedanken, mit neuen Überlegungen zum Laizismus und indem wir den Integrationsprozess der muslimischen Gemeinschaft in die europäischen Gesellschaften gut regeln.
Lassen Sie uns über diese Ideen sprechen: Hat der Westen durch ein Versäumnis dazu beigetragen, dass sich diese enorme Gewalt entwickelt hat?
Ja, ich glaube, dass die westliche Gesellschaft das Integrationsproblem der muslimischen Gemeinschaften in Europa heruntergespielt hat. Sie hat gedacht, dass es ein einfacher Prozess sein würde, der quasi automatisch abläuft. Schließlich leben die Menschen im Westen in einer Demokratie, genießen einen gewissen Komfort. Daran wollen die Muslime teilhaben. Die muslimischen Gemeinschaften haben aber spezielle Bedürfnisse, denen keine Beachtung geschenkt wurde. Bedürfnisse, die mit ihrer muslimischen Welt in ihrem Heimatland zusammenhängen. Das alles wurde übersehen. Und der Westen hat sich ehrlich gesagt ziemlich schlecht verhalten, indem er immer die Diktaturen in den Ländern des globalen Südens und sogar die muslimischen Parteien unterstützt hat. Und heute müssen sie für die Folgen dieser schlechten Politik bezahlen.
Sie haben den radikalen Islamismus, der sich in bestimmten Vorstädten in Frankreich entwickelt hat, aus der Nähe beobachtet. Was bringt Jugendliche dazu, Dschihadisten zu werden?
Sie leben in einer abgeschotteten Gesellschaft. Das ist eine der wichtigsten Ursachen. Diese Jugendliche haben Schwierigkeiten, sie fühlen sich unwohl, sie sind arbeitslos, schlecht ausgebildet. Sie leben in einer Umgebung voller Widersprüche. Einerseits leben sie in Europa, andererseits aber durch ihre Eltern in ihren Ursprungsländern. Wir müssen gegen diese Abschottung kämpfen. Ich weiß nicht genau wie, aber wir müssen es auf jeden Fall tun.
Manche sagen, dass die europäischen Werte in einer Krise stecken, was die islamistische Gewalt womöglich anheizen könnte. Wie denken Sie darüber?
Ja, davon bin ich überzeugt. Meiner Meinung nach ist der Westen mit seiner Philosophie der Aufklärung, die ihn die letzten Jahrhunderte ausmachte, in einen Erschöpfungszustand geraten. Zum Einen hat der Westen selbst seine eigenen Werte, seine eigene Philosophie der Aufklärung nicht respektiert. Zum Anderen radiert die Globalisierung gerade die Eigenheiten jedes Landes aus und ersetzt die allgemeinen Werte des Lebens durch die Gesetze des Marktes - durch Konsum, Spaß, durch die Befriedigung dieser rein materieller Bedürfnisse.
Sie haben gerade die Aufklärung angesprochen. Glauben Sie, dass die Idee der Freiheit an Kraft verloren hat?
Ja, auf jeden Fall. Es gibt keine Freiheit mehr. Wir sind gefangen in zu streng organisierten Staaten, die Vorsorgeprinzipien in den Mittelpunkt ihrer Politik gerückt haben. Die Globalisierung drängt uns die Gesetze des Marktes auf. Werbung und Marketing konditionieren uns. Es gibt keine Freiheit mehr. Ein allmächtiges, allgegenwärtiges Gesetz schränkt die Freiheit der Bürger ein. Die einzige Freiheit, die wir haben, ist es, die Anweisungen der einen oder der anderen zu befolgen. Muslime sagen also, bevor wir dem Markt und dem Recht gehorchen, befolgen wir lieber die Befehle der Religion. Denn die Religion verspricht uns das Paradies, das hat etwas Poetisches. Und dann gibt es auch noch das Abenteuer des Dschihads.
Besonders nach den Attentaten von Paris sprechen viele von der Freiheit und vom westlichen Lebensgefühl. Können wir das wiederherstellen?
Ja, absolut. In der muslimischen Welt gibt es ein Wort, das alle Muslime jeden Tag wiederholen und das ihnen viel Kraft gibt: Ennahda. Das heißt Renaissance. Sie wünschen sich, dass das große arabische Reich aufersteht, die arabisch-muslimische Gesellschaft, der Islam und die großen kämpferischen Werte wieder erwachen. Ich glaube, der Westen sollte einen Prozess anstoßen, den man Renaissance nennen könnte, ganz wie das im 15. und 16. Jahrhundert in Europa schon einmal geschehen ist.
Die Renaissance: das wäre wieder aufbauen, erneuern, die Werte der Aufklärung wieder beleben, die Künste, die Kultur. Um das umzusetzen, müsste man sich aber von den Gesetzen des Marktes und der Globalisierung zu einem gewissen Grad absetzen. Das ist das Problem. Man müsste vielleicht ein föderales Europa schaffen, das die Eigenheiten eines jeden Landes respektiert, und nicht alles standardisieren, nicht alles uniformieren. Diese Arbeit muss gemacht werden. Doch anscheinend macht sie keiner. Einige Intellektuelle und Universitäten setzen sich damit auseinander, aber nicht die Politik. In der muslimischen Welt ist diese Arbeit bereits im Gange. Die Muslime machen sie vielleicht schlecht. Die Dschihadisten machen sie jämmerlich. Aber der Westen schläft und ruht sich auf seinen Lorbeeren aus, auf seinem vergangenen Ruhm. Er müsste sich um die Zukunft kümmern – und zwar jetzt.
Boualem Sansal, geboren 1949, zählt zu den bekanntesten Schriftstellern Algeriens. Seit Jahren warnt er in seinen Romanen und Essays vor den Gefahren des Islamismus. 2011 erhielt er Friedenspreis der Deutschen Buchhandels. Sein neuer Roman "2084" wurde Ende Oktober mit dem Grand Prix du roman de l’Académie française ausgezeichnet. Im kommenden Frühjahr wird er im Merlin Verlag auf Deutsch erscheinen.