Mit Kunst gegen Depressionen
5. Januar 2023Stephane Campion besucht seinen Therapeuten, um sich ein neues Rezept gegen seine Depressionen abzuholen. Das Heilmittel kann er sich selbst aussuchen: Historische Gemälde und Skulpturen? Die Geschichte der Spitzenherstellung? Die Garderobe des Brüsseler Wahrzeichens Manneken Pis?
Campion und sein Therapeut Dr. Vincent Lustygier sind Teil eines sechsmonatigen Pilotprojekts, bei dem Ärzte ihren Patienten den kostenlosen Besuch teilnehmender Museen in der belgischen Hauptstadt Brüssel verordnen. Den Patienten soll so der Weg aus der durch Depressionen verursachten Isolation erleichtert werden.
Als er von dem Projekt erfuhr, war Campion sofort dabei. Jahrelang kämpfte er gegen die Dämonen seiner Depression, ist nun aber genesen. Auf keinen Fall möchte er wieder in Ängsten und Phobien gefangen sein. Er weiß noch, wie schlecht es sich anfühlte, tagelang nicht aus dem Haus zu gehen, sich nicht in der Lage zu fühlen, sich anzuziehen, vor die Tür zu gehen, Freunde zu treffen. "Öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, war schwierig", erinnert er sich.
Die Depression in Schach halten
Paradoxerweise fällt Campions Wahl heute auf einen eher dunklen Ort: das Kanalisationsmuseum von Brüssel! Die Entscheidung, die Dr. Lustygier auf dem schriftlichen Rezept bestätigt, mag ungewöhnlich sein, doch das schmälert nicht die Erfolgschancen, meint Campion. Schließlich ginge es darum "rauszugehen und andere Menschen zu treffen".
Dr. Lustygier ist einer von 20 Ärzten, die an dem Pilotprojekt teilnehmen. Er glaubt, dass es all seinen Patienten helfen könnte. Die meisten von ihnen sind an der Idee interessiert, doch "einige davon wollten nicht teilnehmen, weil sie sich nicht trauen, nach draußen zu gehen und ihr gewohntes Umfeld zu verlassen".
In seiner Praxis setzt er in der Behandlung seiner Patienten schon seit Jahrzehnten Kunstunterricht und Museumsbesuche ein, doch dieser neue Ansatz bindet seiner Meinung nach andere wichtige Elemente ein. Eine schriftliche Verordnung hat für Patienten, die an mangelnder Motivation leiden, ein größeres Gewicht als eine bloße Empfehlung. Zudem können sie drei weitere Personen mitnehmen. Das kann Menschen, die alleine leben oder über wenig Geld verfügen, das stolze Gefühl geben, anderen etwas Schönes zu bieten. "Das ist neu für uns", sagt Lustygier zur DW. "Wir freuen uns sehr, das nutzen zu können."
Nicht nur die Patienten profitieren
Initiiert wurde das Pilotprojekt von der stellvertretenden Bürgermeisterin Brüssels, Delphine Houba. Sie hatte von einem ähnlichen Projekt in Kanada gehört und wollte es zuhause ausprobieren. Nicht nur, um der steigenden Zahl von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu helfen, sondern auch, um den schwächelnden Kultursektor zu unterstützen, für den sie zuständig ist.
"In Belgien hat sich die Zahl der Depressionen in zehn Jahren verdoppelt, das ist eine enorme Steigerung. So viele Menschen leiden", erzählt Houba der DW. "Wir haben nichts zu verlieren. Die Ärzte haben nichts zu verlieren. Die Patienten haben nichts zu verlieren. Und für die Museen bedeutet es einfach nur mehr Besucher. So können wir alle unser Kulturerbe teilen."
In einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation von 2009 werden mehr als 3000 Studien zitiert, die eine bedeutende Rolle der Künste bei der Prävention von Krankheiten, der Steigerung der Gesundheit und dem Umgang mit und der Behandlung von Erkrankungen während der gesamten Lebenszeit belegen.
Die spanische Touristenführerin Maria Gomez Carmona schlendert durch das Brüsseler Stadtmuseum. Sie hält die Initiative für eine gute Idee: "Wenn ich mich schlecht oder traurig fühle oder schlechter Laune bin, gehe ich oft in den Prado in Madrid. Das hilft mir". Mariuca Hristea ist aus Rumänien zu Besuch und bewundert gerade die Porzellanexponate. Auch sie meint: "Das Leben ist gerade so traurig. Etwas Schönes zu sehen, macht einen glücklicher. So einfach ist das für mich."
Die Augen öffnen für die "Wunder der Welt"
Stephane Campion aber stellt nach seinem Besuch des Kanalisationsmuseums fest, dass auch die Beschäftigung mit Dingen, die nicht im herkömmlichen Sinne als "schön" gelten, ihren therapeutischen Zweck erfüllen. "Ich fühle mich besser", sagt er. "Ich vergesse meine Probleme und habe Augen für die Wunder dieser Welt."
Die stellvertretende Bürgermeisterin Houba konnte schon vor Ende des Pilotprojekts im März feststellen, dass die Bereiche, auf die sie abzielte, profitiert haben. "Ich bin bereits von anderen Kulturinstitutionen und anderen Ärzten kontaktiert worden, die am Projekt teilnehmen wollen", berichtet sie. "Vielleicht braucht es Zeit, bis die Menschen es verstehen und bis sie kommen. Aber selbst wenn es nur wenige Menschen sind, bin ich überzeugt, dass die Auswirkungen sehr positiv sein werden."
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.