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Brasilien hat viele Realitäten

Philipp Barth11. November 2014

Homosexuelle Partnerschaften sind heute in Brasilien offiziell anerkannt. Wirklich akzeptiert werden Homosexuelle aber nicht überall, wie Cláudio Nascimento weiß. Philipp Barth hat ihn getroffen.

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Brasilien Aktivisten für Homosexuellenrechte Nascimento und da Silva
Glückliches Paar Nascimento und da SilvaBild: Privat

Es war ein langer Weg bis hier oben in den siebten Stock des Sozialministeriums von Rio de Janeiro für Cláudio Nascimento. Der 43-jährige ist heute Chef des staatlichen Programms "Rio ohne Homophobie". Seine mehr als 80 Mitarbeiter verteilen sich über die Zentrale und mehrere Beratungszentren in der Stadt. Diese gesellschaftliche und politische Anerkennung ist heute selbstverständlich. Als Jugendlicher war sie für Nascimento nur ein ferner Traum.

Nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 - Brasilien ist auf der Suche nach sich selbst. Homosexualität oder Andersartigkeit ist nicht gewünscht. "Homo-Aktivisten wurden damals verfolgt und umgebracht", erzählt Nascimento. Von den Behörden wurden sie ignoriert. "Es war eine Zeit der extremen Feindseligkeit und des Hasses."

Brasilien Homosexuellenrechte Aktivist Claudio Nascimento Silva
Cláudio Nascimento in seinem BüroBild: DW/Philipp Barth

Gesellschaftliche Freiräume kreativ genutzt

Das bekommt er auch in seiner eigenen Familie zu spüren. Erst mit 18 Jahren wird er sich seiner Sexualität bewusst. Seine Familie, arme Analphabeten aus dem Nordosten, verstoßen ihn. Seine Verzweiflung darüber treibt ihn in mehrere Selbstmordversuche. Erst seine erste große Liebe zu einem bekannten Aktivisten und sein Engagement für Schwulenrechte stabilisieren ihn.

Die legale Homo-Ehe wirkt damals noch wie eine absurde Idee aus einer fernen Traumwelt, doch das Paar möchte sich binden und sucht nach Alternativen. So gründen die Beiden kurzerhand eine Zwei-Mann-Firma, die gegenseitigen Verpflichtungen sind in den Unternehmensverträgen geregelt. Wie sie damals das System kreativ für sich eingespannt haben, amüsiert Cláudio Nascimento auch heute noch. "Der Kampf für Gleichberechtigung in Brasilien ist immer auch die Geschichte der Nutzung von Lücken. Um dann von dort aus weiter nach Vorne zu drängen."

"Der Wille zur Veränderung war stärker als die Angst"

An die Speerspitze der Bewegung kommen sie ungewollt. Ein Journalist erfährt von ihrer geplanten Hochzeitsfeier. Solche Feste, privat und abgeschottet von der Öffentlichkeit, sind nicht unüblich in der brasilianischen Schwulenszene der 80er und 90er Jahre. Was als kleine Meldung im Journal "O Globo" beginnt, verbreitet sich wie ein Lauffeuer, und aus dem privaten Glück wird 1994 ein landesweites Politikum. Täglich gehen nun Morddrohungen ein, teilweise von den Zeitungen selbst verbreitet. Auf der Straße folgen ihnen Fremde, beschimpfen das Paar.

Drei Wochen lang bis zur Hochzeit müssen Cláudio und sein Partner von Sicherheitsleuten begleitet werden. "Diese Unsicherheit war unerträglich für uns. Aber der Wille, Teil der Veränderung und der Bildung einer neuen brasilianischen Gesellschaft zu sein, war stärker als die Angst." Auch die Hochzeit selbst soll deshalb öffentlich sein. Unter größtem Medieninteresse trauen zwei katholische Seminaristen die beiden schließlich im April 1994.

Präsident Lula sorgt für ein liberales Klima im Land

Zu diesem Zeitpunkt finden sich in Rio de Janeiro und anderen Städten die ersten Teilnehmer zur Gay-Pride-Parade zusammen. Anfangs noch ein versprengter Haufen, wächst die Bewegung in den folgenden Jahren. Und Cláudio verliebt sich nach dem Tod seines Partners neu.

Gemeinsam mit João da Silva, einem Marinesoldaten, erlebt er wie mit dem Wahlsieg der Arbeiterpartei 2002 und mit dem neuen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva die Forderungen der Bewegung auch in der Politik immer besser gehört werden. Präsident Lula schafft ein liberales politisches Klima und stellt Geld zur Verfügung. Auch für Programme wie "Rio Sem Homofobia", zu deren Chef Cláudio 2007 ernannt wird.

Brasilien Homosexuellenrechte Aktivist Claudio Nascimento Silva
Bild: Privat

Viele Bundesstaaten preschen nun mit der Möglichkeit von Lebenspartnerschaften voran. Im Mai 2011 erkennt der höchste Gerichtshof die eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft bundesweit als gleichwertig mit der traditionellen Ehe an. Cláudio und João werden das dritte Paar in Brasilien und das erste in Rio de Janeiro, das als Ehepaar anerkannt wird.

Erst Präsidentin Dilma kann das Militär überzeugen

Eine Institution aber entzieht sich dem Fortschritt: Die Marine, zu der Cláudios Partner Joao gehört. Sie ist Teil der konservativen Streitkräfte Brasiliens und Bastion des Konservatismus des Landes.

Und sie will Cláudio als gleichgeschlechtlichem Ehepartner die Rechte von Ehepartnern verweigern. Er geht auf Konfrontationskurs, ein Papierkrieg beginnt. Erst ein persönlicher Brief an Präsidentin Dilma Rousseff bringt die Wende. Die Präsidentin zwingt die Marine zur öffentlichen Bekenntnis zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Über 200 gleichgeschlechtliche Ehepartner kommen deshalb mittlerweile wie Cláudio in den Genuss von Sozialversicherung, Krankenversicherung und zur Mitgliedschaft im Militärclub.

Homosexuelle Pärchen seien heute brasilianische Realität und die Menschen würden lernen, damit umzugehen, glaubt Nascimento. Aber das passiere nicht von alleine. "Es ist ein langer Prozess, den wir Homosexuelle immer wieder bewusst mit antreiben müssen. Auch indem wir täglich aktiv Vorurteilen begegnen."

"Die erzkonservativen Evangelisten sind eine Gefahr für die Gesellschaft"

Und die bestehen immer noch. Einerseits hatte Sao Paulo 2011 mit vier Millionen Teilnehmern die größte Gay-Pride-Parade der Welt. Andererseits sind nach Forschungen der Organisation "Grupo Gay de Bahia" in Brasilien im letzten Jahr 312 Schwule, Lesben und Transsexuelle ermordet worden. Das seien 44 % der weltweiten Morde und das Land damit Spitzenreiter.

Brasilien habe viele Realitäten, sagt Cláudio Nascimento. "Es gibt Orte, an denen die Menschenrechte perfekt umgesetzt sind. An anderen Orten gibt es fast keine Menschenrechte."

Junge Homosexuelle hätten es aber heute sehr viel leichter. Denn seine Generation habe einen wichtigen Schritt erkämpft. Die Unterstützung für ihre Sache sei in der Mitte der brasilianischen Gesellschaft angekommen.

Eine Gefahr sieht er dennoch: Die wachsende Gemeinde der erzkonservativen evangelikalen Christen, die Homosexualität als Sünde bekämpfen. Jeder fünfte Brasilianer zählt sich mittlerweile zu ihnen. Nach den jüngsten Wahlen konnten sie ihre Gruppe auf nun 80 Abgeordnete im Kongress vergrößern. Ihr steigender Einfluss in der Gesellschaft ist für Cláudio Nascimento die große Herausforderung im Kampf um Gleichberechtigung und Toleranz in Brasilien.