Brasilien: Abtreibung bei einer Zehnjährigen
19. August 2020Alle 15 Minuten wird in Brasilien ein Mädchen unter 13 Jahren vergewaltigt. Die meisten Täter sind Verwandte. Jede Minute bricht eine Frau illegal eine Schwangerschaft ab, weil sie sich in ihrer Not nicht anders zu helfen weiß.
Erschreckende Zahlen aus einem Land, das sich selbst gerne als modern, fröhlich, jung und herzlich bezeichnet: Brasilien. Allerhöchste Zeit also, dass sich eine Regierung dieser Missstände annimmt – und die strengen Gesetze über Schwangerschaftsabbrüche reformiert, die teilweise 80 Jahre alt sind.
Das Problem: Brasilien wird von Jair Bolsonaro regiert. Und dieser von rechten Aktivistinnen vom Schlage einer Sara Winter unterstützt.
Hexenjagd auf ein zehnjähriges Mädchen
Der Fall eines von ihrem Onkel über mehrere Jahre vergewaltigten Mädchens, das gerade einmal zehn Jahre alt ist und vor dem Schwangerschaftsabbruch einen Teddybären in seinen Händen hält, wirft ein trauriges Schlaglicht auf ein Land, in dem mittlerweile Rechte und Evangelikale den Ton angeben.
Weil sich das Krankenhaus in São Mateus in der Provinz Espírito Santo nach öffentlichem Druck weigert, die Abtreibung durchzuführen – obwohl die Justiz den Schwangerschaftsabbruch zuvor erlaubt hatte - muss die Zehnjährige in ein Flugzeug steigen und in den mehr als 1.000 Kilometer entfernten Bundesstaat Pernambuco fliegen.
Ein wütender rechter Mob erwartet das Kind vor dem Spezialkrankenhaus: aufgebrachte Abtreibungsgegner, evangelikale Pastoren und konservative Politiker beschimpfen das Mädchen als Kriminelle und skandieren "Mörder" in Richtung des behandelnden Arztes und des Krankenhausleiters. Zuvor hatte die rechte Bolsonaro-Unterstützerin Sara Winter den Namen des Mädchens, ihren Wohnort und das Krankenhaus, in dem der Abbruch vorgenommen werden sollte, veröffentlicht und zum Protest aufgerufen.
Auch die Politik beteiligt sich an der Hexenjagd: Frauen- und Familienministerin Damares Alves, evangelikale Pastorin und Abtreibungsgegnerin, kritisiert auf Facebook die Entscheidung der Justiz, die Abtreibung zuzulassen und beklagt den Tod des ungeborenen Lebens. Alves gibt sich ganz mitfühlend: Der Eingriff sei schlicht zu gefährlich.
Klima der Angst
Seit anderthalb Jahren ist der rechtsextreme Jair Bolsonaro an der Macht. Seitdem hat sich in Brasilien ein Klima der Angst und des Hasses entwickelt, in dem sich Abtreibungsgegner zu öffentlichen Protesten ermutigt fühlen.
Schwangerschaftsabbrüche sind in Brasilien nach einer Vergewaltigung und bei Gefahr für das Leben der Mutter gesetzlich erlaubt. Und werden, wenn es sich bei dem Opfer um ein Kind handelt, auch gar nicht erst diskutiert und immer unter Stillschweigen verhandelt. Diese Gewissheiten scheinen im Brasilien von heute vorbei zu sein.
Zur neuen Wirklichkeit gehört auch, dass es höchst gefährlich ist, öffentlich Schwangerschaftsabbrüche wie diesen gutzuheißen. Massive Drohungen und Repressalien sind die Folge. Der Arzt, der die Abtreibung bei der Zehnjährigen vornahm, wurde vor einigen Jahren wegen seiner Arbeit von der katholischen Kirche exkommuniziert. Und christliche Gruppen sehen endlich ihre Stunde gekommen, die Gesetze mit Hilfe von ganz oben, des Präsidenten also, zu verschärfen.
Der Sinneswandel der Sara Winter
Bolsonaro propagiert schon seit Jahren, dass Abtreibungen für ihn ein Verbrechen sind. Mit dieser Haltung war er schon 2018 in den Präsidentschaftswahlkampf gezogen - als einziger unter allen Kandidaten. Bei Sara Winter ist dies ein wenig anders: Die Frau, die noch vor Kurzem im Frauen- und Familienministerium des Landes für Mutterschaftspolitik verantwortlich war, ist ein politisches Chamäleon.
2012 gründet sie die Femen-Gruppe in Brasilien und schockiert die Öffentlichkeit mit oberkörperfreien Bildern und provokanten feministischen Aktionen. Doch innerhalb von ein paar Jahren wird aus der Vorzeige-Feministin eine radikale Abtreibungsgegnerin und Pro-Leben-Aktivistin.
Und dieser Sinneswandel hat, so Winter, ausgerechnet mit einer Abtreibung während ihrer Femen-Zeit zu tun. Dies habe ihr die Augen geöffnet. Heute bereut sie den Schwangerschaftsabbruch, ist streng katholisch und sagt von sich, "Gott habe sie vom Genderwahn geheilt".
"Ich hasste Bolsonaro, als ich Feministin war, doch jetzt glaube ich, dass er das Beste ist, was Brasilien passieren kann", erklärt Bolsonaros prominenteste Verbündete im Kampf gegen die Abtreibung. Und ihr Kampf ist noch lange nicht zu Ende.
Der Onkel übrigens, der das Mädchen seit dem sechsten Lebensjahr missbraucht haben soll, wurde nach seiner Flucht verhaftet. Man hört und liest recht wenig von ihm.