Lula: Der angebliche Kommunist, der keiner ist
29. Dezember 2022Wenn die Anhänger von Jair Bolsonaro nach der ausgiebigen Silvesterfeier an Neujahr aufwachen, wartet auf sie mehr als nur ein Kater, eher wird ihr schlimmster Albtraum wahr. Der Mann, von dem sie behaupten, er wolle Kirchen verbieten und stünde Satanisten nahe, dieser in ihren Augen "gottlose Kommunist", wird am 1. Januar zum neuen Präsidenten Brasiliens vereidigt: Luiz Inácio Lula da Silva.
Aber was ist, wenn in den ganzen Vorwürfen vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit steckte? Wenn der 77-jährige Mitgründer der brasilianischen Arbeiterpartei "Partido dos Trabalhadores" (PT) nach seiner ersten Amtszeit von 2003 bis 2011 nun im zweiten Anlauf in Brasilien heimlich den Kommunismus einführen wollte?
Fernando Morais kann da nur heftig mit dem Kopf schütteln. "Lula war nie ein Kommunist. Und er wird auch nie einer sein. In seinem ganzen Leben hatte er nie irgendeine Beziehung zur Kommunistischen Partei."
Morais muss es wissen, es gibt nur wenige Menschen in Brasilien, die Lula so gut verstehen wie er. Der Schriftsteller kennt den alten und neuen Präsidenten seit einem knappen halben Jahrhundert, hat ihn noch als einfachen Fabrikarbeiter erlebt und eine vielbeachte Biografie über Lula geschrieben.
Morais fragte Lula am Vorabend vor seiner Verhaftung wegen angeblicher Korruption 2017 sogar, ob er im Tiefsten seines Herzens nicht doch ein Kommunist sei. Lulas trockene Antwort: "1980 hatte ich eine halbe Million Arbeiter hinter mir, und ich habe einen Streik verhindert. Wenn ich ein Kommunist wäre, hätte ich damals eine Revolution angezettelt. Doch was habe ich getan? Ich habe stattdessen eine Partei und eine Gewerkschaftszentrale gegründet."
Gewerkschaft statt Kommunistischer Partei
1975 war Lula zum Vorsitzenden der Metallarbeitergewerkschaft gewählt worden, fünf Jahre später gründete er die PT. 1987 zog er als Abgeordneter nach dem Ende der Militärdiktatur (1964 bis 1985) in die verfassungsgebende Versammlung des brasilianischen Kongresses ein.
Es ist vor allem dieses Jahrzehnt vor dem Beginn der steilen politischen Karriere, welches das Bolsonaro-Lager tagein, tagaus aus der Schublade zieht. Immer wieder Thema: Lulas damalige Bewunderung für die kubanische Regierung und seine Gegnerschaft zum Militärregime, deren Polizei ihn 1980 für knapp fünf Wochen hinter Gitter steckte.
"Lulas älterer Bruder, Frei Chico, hat mehrmals versucht, Lula in die Kommunistische Partei zu holen. Er hatte auch das Angebot, in einer geheimen marxistischen Organisation mitzuarbeiten. Aber das hat er nie gewollt. Lula sagte, wer ihn hören wolle, der solle in die Gewerkschaft gehen, er würde nicht geheim an den Straßenecken reden, sondern lieber vor Tausenden in den Stadien", sagt Morais.
Lula: viel mehr Sozialdemokrat als Kommunist
Lulas politische Position tendiert seit seinem Beginn in der Politik immer mehr Richtung Mitte. Wahrscheinlich wäre er in der SPD Deutschlands bestens aufgehoben; der Brasilianer war auch ein persönlicher Freund von Altkanzler Helmut Schmidt.
Während seiner Präsidentschaft (2003 bis 2011) praktizierte Lula eine liberale Wirtschaftspolitik. Gleichzeitig investierte seine Regierung stark in soziale Projekte wie das "Null-Hunger-Programm".
Als er 2003 eine ehrgeizige Sozialversicherungsreform durchführte, schloss Lula sogar extrem linke Mitglieder seiner Partei aus, die sich weigerten, über die Reformen abzustimmen. Während der Lula-Regierung verzeichneten Banken und große brasilianische Unternehmen Rekordgewinne.
Dass Lula in seiner dritten Amtszeit den Gegnern nochmals mit aller Macht beweisen will, kein Kommunist zu sein, glaubt Fernando Morais nicht. "Er hat bereits gesagt, dass er das Präsidentenamt erst an dem Tag aufgeben wird, an dem jeder Brasilianer drei Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen kann - Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Er wird das fortsetzen, was er bereits in seinen ersten beiden Regierungen gemacht hat: den Hunger beenden. Lula braucht nicht mehr zu beweisen, dass er das Gegenteil eines Kommunisten ist."
Brasiliens Sorge: bloß kein zweites Venezuela
Warum aber funktioniert das Schreckgespenst des Kommunismus in Brasilien so gut wie vielleicht sonst nur in den USA, wo die Republikaner seit Jahrzehnten die gleiche Schallplatte gegen die Demokraten auflegen? Wieso triggern Verweise auf Kuba, Nicaragua oder Venezuela heute mehr denn je das Mitte-Rechts-Lager in dem 214-Millionen-Einwohner Land? Und wie ist es möglich, einen Mann zum Kommunisten abzustempeln, der Brasilien acht Jahre lang politisch und wirtschaftlich erfolgreich regierte?
"Ich glaube einfach, diese Kampagnen mobilisieren die Menschen. Wie groß ist die Gefahr, dass in Brasilien ein politisches System wie in Kuba errichtet wird? So gut wie Null. Aber vor allem in der konservativen Wählerschaft und insbesondere im Militär ist die Angst vor Kommunismus immer noch groß", sagt Oliver Stuenkel. Dies sei allerdings eher eine diffuse Angst. "Man muss den Kommunismus eher als Schlachtruf verstehen, der einer Kampagne Sinn verleiht."
Zieht in Brasilien immer: Angst vor dem Kommunismus schüren
Stuenkel ist Professor für Internationale Beziehungen an der Getulio-Vargas-Stiftung in Sao Paulo und war auch scharfer Beobachter des brasilianischen Wahlkampfes. Immer wieder erzählten ihm Brasilianer und Brasilianerinnen in den vergangenen Monaten von ihrer Angst vor dem Kommunismus.
An sich nichts Neues: In Brasilien ist es seit den 1960er Jahren durchaus Tradition, dass die extreme Rechte die Angst vor dem Kommunismus nutzt, um Gegner anzugreifen und die Mittelschicht einzuschüchtern. Für Bolsonaros Anhänger ist jeder, der gegen den Verkauf von Waffen oder Polizeigewalt Stellung bezieht, bereits ein Kommunist.
"Es hat natürlich niemand daran geglaubt, dass es zu Enteignungen kommt, wenn die Arbeiterpartei gewinnt, aber bei den Bolsonaro-Anhängern gilt Lula als linksradikal, wie Joe Biden übrigens auch. Vor allem weil er oder die Arbeiterpartei sich nie von radikaleren Versionen wie Venezuela, Kuba oder Nicaragua abgegrenzt oder auch diese Regierungen verurteilt haben", sagt Stuenkel.
Immer noch verfängt bei vielen Brasilianern die Theorie, die Linke wolle nach dem Ende des Kalten Krieges mit linksradikalem Gedankengut zurück an die Macht. Politikwissenschaftler Stuenkel bezweifelt jedoch, dass Lula auch als Präsident immer und immer wieder als Kommunist diskreditiert wird. "Ich gehe davon aus, dass sich das abschwächt. Irgendwann werden viele merken, okay, das ist jetzt vielleicht eine linke, aber keine kommunistische Regierung."