Nächste Bedrohung "Brexit"
25. Juni 2015"Das ist ein Meilenstein", verkündete David Cameron schwungvoll vor Beginn des Gipfeltreffens mit seinen europäischen Kollegen. Nicht weil es nach wie vor um das Schicksal Griechenlands geht oder die dramatische Flüchtlingskrise, sondern weil er an diesem Abend zum ersten Mal seine Bedingungen für den britischen Verbleib in der EU vortragen würde. Dabei erwähnte kaum ein anderer Regierungschef diesen Tagesordnungspunkt überhaupt, und außerdem hatte die Queen ihrem Premier längst die Show gestohlen.
Beim Staatsdinner am Abend zuvor in Berlin hatte sie nämlich gewarnt: "Wir wissen, dass die Spaltung Europas gefährlich ist und dass wir dieser im Westen wie im Osten entgegenwirken müssen." Je nach politischer Färbung hatten die britischen Zeitungen dies als Hinweis an Cameron ausgelegt, Großbritannien unbedingt in der EU zu halten. Oder - so hatten die Kommentatoren am anderen Ende des Spektrums geschlussfolgert - die Queen wolle die Gipfelteilnehmer überzeugen, die britischen Forderungen zu erfüllen. Sprecher des Buckingham Palastes hatten danach auf die "unpolitische Rolle" der Königin verwiesen. Man weiß also nicht wirklich, ob Elizabeth II. den Regierungschef in seinen Plänen subtil behindern oder fördern will.
Cameron trägt erstmals seine Forderungen vor
Eine halbe Stunde beim Abendessen haben ihm die Kollegen für seinen Vortrag eingeräumt, und zwar während der Nachspeise, wohl um den britischen Vorstoß zu versüßen. Aber was will David Cameron? Für ihn ist die Angelegenheit heikel: Wird er zu genau, können ihm die EU-Gegner in seiner Partei und bei der Europa-kritischen UK Independence Party (UKIP) später die Forderungsliste um die Ohren hauen, weil er vieles nicht bekommen hat. Bleibt er zu vage, wird es für die anderen Europäer schwierig, Kompromisse zu finden. Klar ist lediglich der angestrebte Zeitplan: Bis zum Dezember sollen sich die EU-Regierungschefs mit den britischen Wünschen auseinandersetzen, das Gipfeltreffen vor Weihnachten müsste dann erste Lösungswege aufzeigen.
Dieser Ablauf würde es dem Premier möglich machen, sein In-Out-Referendum schon bald, nämlich im Herbst 2016 abzuhalten. Denn 2017 ist dafür ein denkbar ungünstiges Jahr. Es gibt Wahlen in Deutschland und Frankreich, kein guter Zeitpunkt für öffentliche Zugeständnisse an Großbritannien. Außerdem sind die Briten auch an der Reihe, die rotierende Präsidentschaft der EU zu übernehmen. Da könnten sie schlecht auf halber Strecke den Ausstieg erklären.
Wie viel "Reform" will Cameron?
Realpolitisch betrachtet ist für Cameron der Wunsch nach einem Zuwanderungsstopp am wichtigsten. Allerdings haben die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident es bereits rundheraus abgelehnt, die Freizügigkeit einzuschränken. Der Premier sucht also eine Formel, weiteren Zuzug aus der EU auf bestimmte Arbeitskräfte zu begrenzen. Das könnte eine juristische Gratwanderung werden.
Etwas leichter zu erfüllen ist der Wunsch nach Änderungen bei den Sozialleistungen: Da ist nach nationalem Recht sowieso einiges möglich, und darüber hinaus hätte Cameron die Unterstützung mancher anderer EU-Regierungen, wie etwa Dänemarks. Nächster Punkt ist eine Klausel, wonach dem Finanzplatz London keine Nachteile aus der immer enger zusammenrückenden Gemeinschaft der Euroländer entstehen sollen. Auch hier ist eine Lösung denkbar, zumal die anderen Nicht-Euro-Länder ihn unterstützen.
Bekenntnisse zur Vollendung des Binnenmarktes wiederum und zu Handelsabkommen wie TTIP würde Angela Merkel sofort unterschreiben - beides aber kann auch sie nicht rechtzeitig bis zum Herbst nächsten Jahres garantieren. Ziemlich unklar ist bislang die Forderung nach einer Rückübertragung von Kompetenzen aus Brüssel nach London. Hier geht es den britischen EU-Skeptikern um ihre Idee von nationaler Selbstbestimmung. Da Großbritannien allerdings schon eine Reihe von Opt-outs bei der Justiz-, Innen- und Sozialpolitik hat, muss man abwarten, welche weiteren Ausnahmeregelungen das Königreich tatsächlich will.
Und schließlich geht es noch um eine Änderung von politischem Symbolwert: Die britische Regierung will von der "immer engeren Union" ausgenommen werden, wie sie im EU-Vertrag angestrebt wird. Hier wäre vermutlich eine Art von Zusatzprotokoll denkbar, mit dem den Mitgliedsländern freigestellt wird, ob sie dabei mitmachen wollen oder nicht.
Das EU-Referendum ist vor allem ein innenpolitisches Problem
In dem beschriebenen Rahmen sind allerhand Kompromisse denkbar, die David Cameron zu Hause als Erfolg verkaufen könnte. Allerdings sind Änderungen an den EU-Verträgen nicht bis zum Herbst 2016 möglich. "So etwas würde viele Jahre dauern", erklärte der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz. Zwar hatte Angela Merkel diese Möglichkeit nicht ganz ausgeschlossen, andere Regierungschefs wie der Franzose Hollande, der Österreicher Faymann oder der Belgier Michel aber haben bereits Widerstand gegen ein "Europa à la carte" nach britischen Vorstellungen angekündigt.
Schulz wies darüber hinaus auf ein weiteres Problem des Premierministers hin: "Wenn er sich mit seiner Botschaft zur EU-Mitgliedschaft an seine Konservativen im Unterhaus wendet, wird er sie nie zufrieden stellen können. Wenn er sich an die Menschen in seinem Land wendet, kann die Sache gut ausgehen". Die Hauptschwierigkeiten von Cameron liegen nämlich zu Hause in seiner eigenen Partei, wo den EU-Gegnern kein Zugeständnis groß genug sein wird.
Es geht ihm da ganz ähnlich wie seinem griechischen Kollegen Alexis Tsipras. Nur dass die anderen Europäer einen "Grexit" weit weniger fürchten als einen "Brexit". Die britischen Sonderwünsche könnten zur nächsten großen Krise der EU führen, kaum dass das laufende Drama überwunden ist.