Brexit ohne Nachahmer in Osteuropa
28. Juni 2016Am deutlichsten war die erste nonverbale Reaktion aus dem sonst so EU-skeptischen Warschau. Die seit ein paar Monaten entfernten Europafahnen im Konferenzraum der Premierministerin Beata Szydło sind plötzlich zurück. Ein bisschen weniger Nation, ein bisschen mehr Europa - so wurde die Botschaft gedeutet.
Sogar der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński, der für viele Beobachter der wahre Lenker der polnischen Politik ist, überraschte in seiner ersten Erklärung nach dem Referendum mit klaren Worten: "Polens Platz ist in der Europäischen Union."
Für die polnische Diplomatie ist die Brexit-Entscheidung eine ziemliche Klatsche. Noch vor wenigen Tagen versicherte Außenminister Witold Waszczykowski im DW-Gespräch: "In Europafragen fühlen wir uns London näher als Berlin."
Europa der zwei Geschwindigkeiten
Als jetzt Berlin zur ersten Krisensitzung nach dem Brexit-Referendum in die deutsche Hauptstadt lediglich die EWG-Gründungsmitgliedsländer einlud, sah das für Warschau so aus, als ob man Paris und Rom den EU-Partnern Budapest oder Warschau vorziehen würde. In Osteuropa fürchten viele Politiker, dass Deutschland ein Europa der zwei oder gar drei Geschwindigkeiten bevorzugen könnte.
Kein Dominoeffekt im Osten
Auch wenn die Unzufriedenheit über die EU in Osteuropa groß ist, eine richtige Debatte über Polexit, Tschexit oder Bulexit gibt es nicht. Auch der griechische Finanzminister Efklidis Tsakalotos beteuerte im Zentralkomitee der linken Regierungspartei Syriza, der Brexit würde auf keinen Fall eine neue Diskussion über einen möglichen Grexit entfachen.
Eine Kettenreaktion ist schon deshalb nicht wahrscheinlich, da die Länder Mittel- und Osteuropas als Netto-Empfänger von Milliarden-Beträgen stark am Tropf der EU hängen. Allein Polen erhält jedes Jahr 14 Milliarden Euro mehr von der EU als Warschau an Mitgliedsbeiträgen einzahlt. Daher auch die Sorge um die künftige Ausstattung von Struktur- und Investitionsfonds.
Zwischen Angst und Hoffnung
Zugleich wächst die Sorge, dass die ost- und mitteleuropäischen Handelsbilanzen und Auslandsinvestitionen unter Druck geraten könnten. In Bulgarien und Rumänien fallen die Handelsbilanzen mit Großbritannien eher bescheiden aus. Polen dagegen exportiert mehr als sieben Prozent seiner Ausfuhren nach Großbritannien. Mit einem schwachen Pfund sinken die Profite aus diesen Geschäften. Gleichzeitig, so die Experten, erschwere der Brexit weitere Investitionen.
Und dann ist da noch der direkte Geldstrom von den eigenen Bürgern. Migranten aus den "neuen" EU-Ländern stützen ihre Herkunftsvolkswirtschaften kontinuierlich mit hohen Geldtransfers. Auf den Inseln arbeiten beispielsweise fast eine Million Polen, rund 250.000 Rumänen und Bulgaren, ebenso viele Ungarn, Tschechen und Slowaken. Allein die polnischen Migranten schicken nach aktuellen Berechnungen umgerechnet etwa 1,2 Milliarden Euro jährlich zurück in ihre Heimat. Ein Teil dieser Summe stammt vom britischen Kindergeld, das für die im Heimatland verbliebenen Kinder gewährt wird.
Migranten müssen mit Konsequenzen rechnen
Arbeitsmarktexperten rechnen damit, dass ein Teil der Migranten in ihre Heimat zurückkehren wird. "Die Briten versuchen den Zugang ausländischer Arbeitnehmer einzuschränken", analysiert der bulgarische Wirtschaftsexperte Georgi Angelov von der Stiftung "Open Society" in Sofia. Es ist also "nicht auszuschließen, dass manche ihre Arbeitsplätze verlieren werden und in ein anderes EU-Land werden umsiedeln wollen."
Ein großer Teil dieser Migranten könnte nach Deutschland kommen, glaubt Herbert Brücker vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarktforschung. "In den vergangenen fünf Jahren entstanden in Deutschland rund 1,1 Millionen neue Arbeitsplätze, die von Ausländern, überwiegend aus den so genannten neuen EU-Ländern, besetzt wurden", so Brücker im Gespräch mit DW. "Das zeigt, dass der deutsche Arbeitsmarkt durchaus aufnahmefähig und flexible ist."
In den betroffenen Ländern sieht man die Rückkehr der Landsleute trotz aller Nachteile auch positiv. Eine Rückkehrbewegung könnte zum Beispiel den sogenannten "Braindrain" mildern, hofft der polnische Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident Mateusz Morawiecki. Er glaubt, dass durch den Brexit Tausende junge polnische Fachkräfte zurück in ihre Heimat gehen. "Es sind Leute, die wir für das Wirtschaftswachstum in Polen brauchen."