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Veröffentlichung

Das Gespräch führte Eva Usi20. September 2006

Kritiker werfen dem früheren Papst Papst Pius XII. "Schweigen zum Holocaust" vor. Neue Akten gäben Einblicke hinter die Mauern des Vatikans, erhofft sich der Kirchenhistoriker Hubert Wolf im DW-WORLD.DE Interview.

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"Deutsche Prägungen": Pius XII.
"Deutsche Prägungen": Pius XII.Bild: AP

DW-WORLD: Das Vatikanische Geheimarchiv macht die Papiere aus den Jahren 1922 bis 1939 erstmals der Öffentlichkeit zugänglich. Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich?

Pof. Hubert Wolf: Wir bekommen zum ersten Mal Einblicke in die internen Diskussionen der Kurie und die Berichte von 80 Nuntiaturen (Anm.: diplomatische Vertretungen des Vatikan) aus der ganzen Welt. Daraus können wir ersehen, welche Haltung die Kirche zu den entscheidenden Fragen der Zeit einnahm: Zum Beispiel: Wie war das Verhältnis zum Faschismus in Italien? Wie war das Verhältnis zu Franco in Spanien? Wie stand die Kirche zum Thema Gewalt? Wie war das Verhältnis zum Nationalsozialismus und wie war die Meinung der Kurie in der Zeit bis 1939 zum Thema Antisemitismus? Wir haben jetzt nicht nur die öffentlichen Äußerungen des Papstes, sondern auch die internen Diskussionen aus den Dikasterien, also den vatikanischen "Ministerien". Sie zeigen, dass man zu den einzelnen Fragen sehr unterschiedliche Positionen innerhalb der Kurie vertrat und dass es da durchaus Streit und unterschiedliche Meinungen gab.

Seit Oktober 2000 geht eine jüdisch-katholische Historikerkommission der Frage nach, inwieweit der Heilige Stuhl über den Massenmord an den Juden informiert war und wie er zur "Endlösung der Judenfrage" stand. Wird es eine Antwort auf diese Fragen geben?

Die jetzige Öffnung bezieht sich nur auf den Zeitraum bis 1939. Die "Endlösung der Judenfrage" wurde aber erst 1941/42 beschlossen. Bislang ist das Vatikanische Archiv nur für die Zeit bis 1922 zugänglich gewesen, dass heißt, es sind nun mit einem Schlag 17 weitere Jahre, also 90.000 Akten zugänglich geworden, die zuerst einmal geordnet werden mussten.

Die Akten aus dem Pontifikat Pius' XII. (1939-1958) sind noch nicht zur Einsicht freigegeben.

Ich bin aber relativ sicher, dass der Vatikan in den nächsten Jahren auch die Akten aus dem Pontifikat Pius' XII. zugänglich machen wird, damit diese Frage der jüdisch-katholischen Historikerkommission beantwortet werden kann. Dann hätten auch die Spekulationen ein Ende. Ich glaube, dass die Öffnung des Archivs der Inquisition 1998, die vorzeitige Öffnung der Akten zu den deutschen Angelegenheiten im Vatikanischen Archiv 2003 und jetzt die totale Öffnung des Pontifikats Pius XI. von 1922 bis 1939 Schritte sind, die zu dem großen Schuldbekenntnis gehören, mit dem der Papst im Heiligen Jahr 2000 um Vergebung gebeten hat für die Fehler und die Vergehen, die die Kirche begangen hat. Er hat die Historiker gebeten, diese Dinge präzise aufzuarbeiten.

Erhofft sich neue Erkenntnisse: Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf
Erhofft sich neue Erkenntnisse: Kirchenhistoriker Prof. Hubert WolfBild: Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte Münster

Auch zahlreiche Fragen zum Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und widerstreitenden politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts sind noch offen: Wie war etwa das Verhältnis der Kurie zum Franco-Spanien und zum Antiklerikalismus in Mexiko?

Das Thema Mexiko und die antiklerikale Position der mexikanischen Regierungen waren, wie wir gesehen haben, ein Dauerbrenner. Es gab eine ganze Menge von Sitzungen der Kongregation für die außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten, das heißt der politischen Zentrale des Staatssekretariates. Dort wurde in den 1920er Jahren mehrfach über das Thema Mexiko diskutiert, natürlich auch über die Frage des Umgangs mit Gewalt und Verfolgung: Hätte es eine katholische Gegengewalt geben können? Das zeigt, dass Mexiko keineswegs irgendwo am Rande der Wahrnehmung lag, sondern in den 1920er Jahren in Rom eine ganz zentrale Rolle spielte, jedenfalls zentraler, als man sie aus einer verengten, eurozentrischen Perspektive zu kennen glaubte.

Die Akten über die Amtszeit Pius XII. werden noch nicht öffentlich gemacht. Zuvor war er jedoch unter seinem bürgerlichen Namen Eugen Pacelli Nuntius in Deutschland und Kardinalstaatssekretär im Vatikan. Erwarten Sie mehr über seine noch ungeklärte Position zum Holocaust?

In dem Moment, in dem man die Dokumente zugänglich macht, ist es sinnvoll, dass man abwartet, bis die Historiker die Dokumente zu Pacelli in seiner Rolle als Nuntius in Deutschland und zu seiner Tätigkeit als Kardinalstaatssekretär von Pius XI. erst einmal auswerten. Denn dann hören doch die Spekulationen auf! Dann können Sie genau sagen, was der Kardinalstaatssekretär Pacelli zu welchen Themen, etwa zum Franco-Spanien gesagt hat, und wie seine Position im Verhältnis zu der des Papstes oder der anderer Kardinäle war.

Könnte durch die erwarteten Erkenntnisse das geplante Seligsprechungsverfahren für Pius XII. auf Eis gelegt werden?

Ob die Heiligsprechung auf Eis gelegt wird, das kann nur der Papst selber entscheiden. Ich denke, erst wenn man sich mit Pacelli wirklich beschäftigt hat, wenn man die Quellen, die es zu ihm gibt, präzise ausgewertet hat, dann kann man die historische Seite eines solchen Seligsprechungsverfahrens auf einer ganz sicheren Basis mit aller Ruhe anschauen und ist nicht auf Spekulation oder Kritik angewiesen, sondern man argumentiert auf der Basis harter Fakten. Machen Sie sich klar, dass wir mit den 3.500 Berichten, die wir von Pacelli haben, ihm als Mensch, Seelsorger oder Politiker nahe kommen. Ich glaube, dass diese deutschen Prägungen es möglicherweise auch leichter machen, zu verstehen, wie er später als Papst agierte. Darum sind wir auch nicht enttäuscht, dass wir die 1939 bis 1945 noch nicht bekommen. Ich wäre froh, hätte ich die 3.500 Nuntiaturberichte von Pacelli schon gelesen. Denn dann hätte ich vermutlich ein differenzierteres Bild von Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII.

Hubert Wolf lehrt Kirchengeschichte an der Universität Münster. Zu seinen Hauptforschungsgebieten zählt die Erschließung der in Rom gelagerten Archivbestände des Vatikans. Bereits seit 1992 hatte Wolf Zugang zu den Akten. Im gleichen Jahr wurde er in den international besetzten wissenschaftlichen Beirat des Archivs der Glaubenskongregation berufen.