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Politik

Bulgarien: Protestierende hoffen auf Europa

24. September 2020

Seit Monaten demonstrieren tausende Bulgaren gegen die Regierung des EU-Landes. Sie fordern eine Justizreform, Maßnahmen gegen Korruption und den Missbrauch von EU-Mitteln – und Unterstützung aus der EU.

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Bulgarien I Proteste in Sofia
22.09.2020: Der 76. Tag der Proteste gegen die bulgarische Regierung in Sofia, der Hauptstadt des EU-LandesBild: Alexandar Detev/DW

"Ich verfolge die Situation in Bulgarien - aber ich war doch sehr überrascht, hier vor Ort zu sehen und von so vielen Betroffenen zu hören, wie schlecht sie ist". Der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund hat am 76. Tag der Proteste gegen die bulgarische Regierung in der Hauptstadt Sofia (22.09.2020) teilgenommen. Von der Tribüne herab hat er seine Unterstützung für die Demonstrationen erklärt: "Korruption ist in ganz Europa ein Problem. Wenn wir die EU vereint halten wollen, sollten wir dagegen ankämpfen."

Drei Tage hat der Deutsche in Bulgarien verbracht, um sich über den mutmaßlichen Missbrauch von EU-Mitteln durch bulgarische Regierungskreise zu informieren. Unter anderem hat Daniel Freund mit einem Beamten in einem bulgarischen Ministerium gesprochen. "Er hat mir die Mechanismen erklärt, wie Korruption konkret passiert," berichtet der Europaabgeordnete.

"Der Beamte hat zum Beispiel beschrieben, wie sie es hinbekommen, öffentliche Ausschreibung so zu gestalten, dass immer die Firmen gewinnen, die man vorher ausgesucht hat," so Freund gegenüber der DW. "Und wie Beamte dazu gezwungen werden, das zu machen, was man will: Erhebliche Teile ihrer Bezüge werden nämlich über ein Bonussystem ausgezahlt."

Die Proteste in Bulgarien begannen vor mehr als zwei Monaten. Die Teilnehmenden fordern den Rücktritt der Regierung von Premier Boiko Borissow sowie des Generalstaatsanwalts Iwan Geschew. Ausgelöst haben die Demonstrationen Durchsuchungen des Amtssitzes des zur Opposition gehörenden Staatspräsidenten Rumen Radew Anfang Juli - sowie ein oppositioneller Politiker, der zeigte, wie eine der Schlüsselfiguren der bulgarischen Politik einen öffentlichen Strand am Schwarzen Meer für sich erobert hat.

Bulgariens Regierungschef Boiko Borissow
Bulgariens Premierminster Boiko Borissow von der GERB-Partei, einem Mitglied der Europäischen Volkspartei EVPBild: picture-alliance/dpa/S. Schuldt

Der Kaiser ist nackt - und gemein

Seitdem fordern immer wieder tausende Bürgerinnen des EU-Landes einen Neustart des Systems. Dies kann nur durch eine vollständige Justizreform und einen entschlossenen Kampf gegen Korruption und den Missbrauch von EU-Mitteln erreicht werden, meinen sie. "Wir haben der ganzen Welt und vor allem der EU gezeigt, dass der Kaiser keine Kleider anhat. Und, dass er nicht nur nackt ist, sondern auch gemein", sagt Nikolaj Hadzhigenow, Rechtsanwalt und Initiator der Proteste.

Die Demonstranten erwarten mehr Unterstützung aus Europa. Sie kritisieren die konservative Europäische Volkspartei EVP und vor allem deren deutsche Mitgliedsparteien CDU und CSU, weil diese die Probleme, die Bulgarien mit Korruption, mangelnder Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit hat, ignorierten und Borissows Partei "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens" (GERB) weiter unterstützten.

Proteste in Bulgarien
Mit verbundenen Augen: Protest gegen die Unterstützung für Borissow vor der deutschen Botschaft in Sofia am 12.08.20 Bild: picture-alliance/dpa/AP/V. Petrova

Ein Brief an Angela Merkel

"Wie würden Sie die Partnerschaft der CDU mit der GERB-Partei trotz der zahlreichen Korruptionsskandale, des gut dokumentieren Mangels an Medienfreiheit und der fehlenden Gewaltenteilung rechtfertigen und legitimieren?", fragten bulgarische Studenten in Deutschland in einem offenen Brief die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel.

"Wir haben die Unterstützung der Europäischen Volkspartei", sagte der GERB-Abgeordnete im bulgarischen Parlament Toma Bikow in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen BNT. Nur "die Sozialdemokratische Partei Europas, die radikalen Linken und die Liberalen" kritisierten GERB.

Daniel Freund - Europaparlament, Abgeordneter Bündnis90/Die Grünen
Daniel Freund, Europaabgeordneter der Grünen aus DeutschlandBild: DW/B. Riegert

Kritische Stimmen werden vorsichtig lauter

"Was die Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien angeht, sind die kritischen Stimmen in der Europäischen Volkspartei in den letzten Monaten vorsichtig lauter geworden", sagt MdEP Daniel Freund gegenüber der DW. "Leider halten sie sich noch immer zurück, wenn es um eine Regierung geht, die Mitglied der EVP ist."

Die protestierenden Bulgaren hoffen, dass die EU ihnen hilft, ihre Ziele zu erreichen und die bulgarische Regierung zur Verantwortung zu ziehen. Bei den Protesten sind viele Europa-Flaggen zu sehen - obwohl der bulgarische Präsident, der die Demonstrationen unterstützt, als pro-russisch gilt.

Über Parteizugehörigkeiten hinaus

"Was ich wirklich sehr positiv an den Protesten finde, ist, dass sie über verschiedene Bevölkerungsschichten, politische Ideen und Parteizugehörigkeiten hinausgehen", sagt Daniel Freund, "und dass man die Hoffnung auf die Europäische Union nicht verloren hat."

"Unsere einzige Chance ist es, alle zusammen zu bringen", erklärt Nikolaj Hadzhigenow, "eines Tages, wenn wir faire und transparente Wahlen gewährleisten können, können wir uns wieder in tausend politische Richtungen aufteilen".

Europaabgeordnete Sophie in 't Veld
Sophia in 't Veld, Europaabgeordnete der liberalen niederländischen Patei "Democraten 66"Bild: imago

Plenardebatte im Europa-Parlament

"Die Situation in Bulgarien gibt Anlass zur Sorge", meint die liberale EU-Abgeordneten Sophia in 't Veld (Democraten 66) gegenüber der DW. Die Niederländerin leitet die Überwachungsgruppe für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte im EU-Parlament, deren Mitglieder sich am 28. August mit dem stellvertretenden bulgarischen Ministerpräsidenten und dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt des EU-Landes getroffen haben. Nach dem Treffen wurde eine Liste mit Anschlussfragen an die zuständigen bulgarischen Institutionen verschickt. Hauptthemen sind Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und Menschenrechte.

Am 5. Oktober steht im Europäischen Parlament eine Plenardebatte über Bulgarien an. Daniel Freund wird dabei sein - und seine Mitabgeordneten über die Korruptionsvorwürfe informieren, von denen er auf seiner Reise erfahren hat. "Wir werden diese Fälle sehr konkret nachverfolgen", verspricht der Grünen-Abgeordnete.

Ein junger Mann mit Bart blickt lächelnd in die Kamera. Er trägt ein weißes Hemd und einen dunklen Blazer
Alexandar Detev Autor, Korrespondent und Redakteur