Eine Zwischenstation für Flüchtlinge
28. April 2016
Rund 60 Kilometer vor der türkisch-bulgarischen Grenze liegt Bulgariens größtes Flüchtlingslager Harmanli. Vor zwei Jahren fand auch der 37-jährige Kurde Rasheed Allawi aus Syrien dort Zuflucht. Ein typisches Flüchtlingsschicksal: Er ist gut ausgebildet, spricht Englisch und arbeitete früher in Damaskus als Reiseführer mit ausländischen Touristen. Im Oktober 2013 flüchtete er vor dem Krieg in die Türkei, wo er stecken blieb. Er kratzte all seine Ersparnisse zusammen und handelte mit den Schleusern aus, dass sie ihn für 500 Euro nach Europa bringen. Es reichte nur für wenige Kilometer, nach Bulgarien.
Mittlerweile ist Rasheed Allawi als politischer Flüchtling anerkannt und wohnt in Stara Zagora - eine halbe Autostunde entfernt von seinem einstigen Aufnahmelager, in Harmanli. Dort ist er noch regelmäßig zu Besuch - denn er arbeitet für das Bulgarische Rote Kreuz als Sprach- und Kulturmittler. Das bringt ihm 500 Euro im Monat - nicht viel, aber genug: immerhin das Doppelte eines bulgarischen Mindestlohns.
Hauptsache weg aus Bulgarien
Einen "Vorzeigeflüchtling" wie den 37-jährigen Rasheed trifft man in Bulgarien selten. Das Land gilt zwar als mögliche Alternative zu der vor kurzem geschlossenen Balkanroute, doch die meisten Migranten meiden es. Jene, die doch ins Land kommen, laufen nach kurzer Zeit weg. Seit Anfang 2016 wurden in bulgarischen Aufnahmezentren fast 4500 Asylsuchende registriert, nur 700 sind geblieben. Ein Grund dafür ist der schlechte Ruf des Landes, wo Bürgerwehren Flüchtlinge "jagen" und wo schon ein Afghane beim Versuch, die Grenze zu überqueren, erschossen wurde. Doch ebenso sehnen sich viele Migranten nach dem "Sozialstaat Europa". Dieser ist im Westen.
"Die Migranten wissen sehr gut, dass sie in Deutschland, Dänemark oder Schweden großzügige Sozialhilfe bekommen würden", sagt Jordan Malinov, Leiter der Flüchtlingsunterkunft in Harmanli. "Bei uns bekommen sie nur ein Dach über dem Kopf und Essen." Sogar die 33 Euro Taschengeld pro Kopf im Monat hatte man schon vor einem Jahr gestrichen.
Mit dem Billigflieger nach Deutschland
"In Deutschland ist alles viel besser", schwärmt auch Uarda Hossein, eine 28-jährige schwangere Syrerin. Sie lebt seit sechs Monaten in Harmanli, mit ihrem Mann und sieben Kindern. 9000 Euro haben sie an die Schleuser gezahlt, um aus der Türkei nach Deutschland zu gelangen. "An dem Tag, als wir durch Bulgarien flüchteten, regnete es in Strömen", erzählt Uarda. "Wir fuhren mit dem Auto durch einen Wald und plötzlich ließ uns der Fahrer aussteigen. Ein zweites Auto sollte uns abholen und weiter nach Serbien bringen." Doch es kam niemand. Nach Stunden ging die neunköpfige Familie allein los und wurde unterwegs von der Polizei aufgegriffen. Damit endete ihre Reise kurz vor Sofia.
Die Familie bekam mittlerweile politisches Asyl und bulgarische Pässe. Damit dürfen sie sich eigentlich in der EU frei bewegen. Der Traum von Deutschland ist nicht ausgeträumt. "Wenn wir es dahin schaffen und dort innerhalb von drei Monaten einen Job finden, dürfen wir mit den neuen Dokumenten dort auch bleiben", sagt Uarda. Doch ihnen fehle das Geld für die Tickets. Sie hoffen, dass ihre Verwandten aus Frankfurt am Main etwas schicken. Dann könnte der Traum doch noch wahr werden: Rein in einen Billigflieger und ab nach Deutschland.
Sehnsucht nach sozialer Sicherheit
"Die meisten Migranten bleiben höchstens eine Woche in Harmanli", sagt Jordan Malinov. Wer Geld hat, geht zu den Schleppern. "Eines Nachts verlassen sie das Gelände und kommen nie wieder", so der Leiter der Einrichtung. Besonders in Erinnerung blieb ihm eine syrische Familie mit einem Kind im Rollstuhl. "Sie versuchten viermal hintereinander, nach Deutschland zu fliehen, wurden aber immer wieder von serbischen Grenzschützern aufgegriffen und zu uns ins Lager zurückgeschickt", erinnert sich Malinov. Beim fünften Mal kehrten sie nicht mehr zurück. "Wahrscheinlich hatten die Serben schon Mitleid mit ihnen und ließen sie die Grenze doch passieren", vermutet Malinov.
"Verstehen sie das nicht?", fragt er. "Solange die Standards für die Flüchtlingsaufnahme und die finanzielle Unterstützung in den EU-Ländern so unterschiedlich sind, werden sich die Migranten nur reiche Staaten aussuchen." Malinov erzählt auch, dass sich das Profil der Neuankömmlinge stark verändert hat. Anfangs suchten viele Familien einfach ein sicheres Dach über dem Kopf. 2013 und 2014 kamen viele gut ausgebildete Syrer, wie Rasheed Allawi. "Heute kommen immer mehr junge Iraker und Afghanen, die angeblich vor dem 'Islamischen Staat' fliehen. Aber 90 Prozent von ihnen haben ihre Personalausweise weggeworfen", sagt Malinov. An der Arbeit und Integration seien die wenigsten interessiert, beklagt er.
Stolpersteine bei der Integration in Bulgarien
Neuerdings bekommen Asylsuchende, die länger als drei Monate in der Unterkunft bleiben, konkrete Jobangebote. "Willst du als Koch oder Bäcker arbeiten?", fragt die Sozialarbeiterin Svetlana Karagjozova einen 23-jährigen Iraker, der für die Medien anonym bleiben möchte. Er würde 900 Lewa (etwa 450 Euro) monatlich verdienen. "Ich weiß es nicht", antwortet er. "Bisher hat kein Einziger etwas angenommen", sagt Karagjozova. "Sie haben nur ein Ziel - weiter nach Deutschland zu fahren."
Dann zeigt die Sozialarbeiterin auf die zerschlagenen Fenster der Wohncontainer. Im Herbst 2015 hätten Flüchtlinge sie mit Steinen beworfen. "Damals sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die Türen Deutschlands offen stehen. Ab dem Moment wollte sich keiner mehr in Harmanli registrieren lassen", erklärt sie. "Jene, die schon da waren, mussten theoretisch bleiben. Sie wollten aber raus, nach Deutschland. Aus Protest haben sie die Fenster eingeschlagen."
"Wir vermissen die Flüchtlinge"
Noch im Oktober 2015 waren rund 2000 Flüchtlinge in Harmanli untergebracht. Ein halbes Jahr später sind es noch 130. Nur ein bis zwei Asylsuchende pro Woche werden derzeit registriert. "Wir vermissen die Flüchtlinge", sagt die Sozialarbeiterin, die sich genauso wie ihre Kollegen um ihren Arbeitsplatz sorgt.
Auch die Kleinhändler in der Stadt sehnen sich nach mehr Flüchtlingen. Denn die Neuankömmlinge haben für gute Gewinne gesorgt. Jetzt sei der Umsatz wieder eingebrochen. Auch für die Schlepper. Karagjozova berichtet, dass sich einige Stadtbewohner in den letzten Monaten neue Autos gekauft oder ihre Wohnung renoviert haben, obwohl die Löhne dafür eigentlich nicht reichen. Jeder im Ort glaubt zu wissen, woher das Geld stammte.
Möglicherweise haben Schleuser auch den ersten zwei Migranten ihre "Dienste" angeboten, die nach dem Quotenprinzip freiwillig aus Griechenland nach Bulgarien gekommen sind. "Nun ja…", überlegt Karagjozova kurz. Dann sagt sie: "Sie sind nach einer Woche auch weggelaufen. Wahrscheinlich nach Westeuropa."
Der Sprach- und Kulturmittler Rasheed Allawi bleibt hingegen in Bulgarien. Vielleicht für immer. Dass er im ärmsten EU-Land lebt, spielt für ihn keine Rolle. "Ich liebe das Land und möchte nicht weiter reisen, auch nicht nach Deutschland", sagt er. "Die Mentalitäten der Bulgaren und der Syrer ähneln einander sehr." Es sei ein schönes Land und außerdem könne er dort in Frieden leben: "Danach habe ich doch gesucht."