Cannes zwischen Glamour und Realität
25. Mai 2022Dieses Jahr scheint es in Cannes zwei ganz unterschiedliche Filmfestspiele zu geben. Zum einen hat das Festival nach zwei Jahren Corona sein Versprechen eingelöst, das "Kino zurückzubringen". Es ist eine freudige und maskenfreie Zelebration von großen Filmen und Filmschaffenden. Die roten Teppiche voller Prominenter, die Partys wild und die Filme - vom Tom Cruise' Blockbuster "Top Gun" bis zu Cristian Mungius' rumänischem Kleinstadtdrama R.M.N. - so mitreißend und bewegend, wie Kino nur sein kann.
Auf der anderen Seite ist da die harte Wirklichkeit, so wie der brutale Krieg in der Ukraine, der einem das Feiern verleidet. Bei der Weltpremiere von George Millers "Dreitausend Jahre Sehnsucht", einer Art Erwachsenenmärchen wie aus 1001 Nacht mit Tilda Swinton und Idris Elba, entblößt sich eine Frau auf dem Roten Teppich: Die Farben der ukrainischen Flagge prangen auf ihrem halbnackten Körper, der Schriftzug "Hört auf, uns zu vergewaltigen" quer über ihrer Brust.
Zwei Tage später, bei der Premiere von Ali Abbasis Wettbewerbsfilm "Heilige Spinne", der Geschichte eines Prostituierte mordenden Serienkillers im Iran, stoppt ein Dutzend Frauen auf der Treppe zum Kino, lässt schwarzen Rauch aufsteigen und entfaltetet ein Banner mit den Namen von 129 seit dem letzten Filmfestival im Juli 2021 in Frankreich brutal ermordeten Frauen.
Fliegerstaffel als Marketingmaßnahme
Bei der Premiere von "Top Gun: Maverick" dröhnt eine Staffel französischer Kampfjets über den Roten Teppich - eine donnernde Werbetrommel für den Actionfilm aus Hollywood und - ganz wie das Original aus dem Jahr 1986 - gleichzeitig gekonnte Reklame für die Militärindustrie der USA. Viele am Boden schaudert es. Einige Gäste - etwa die Filmemacher aus der Ukraine - suchen Schutz unter den Tischen, überzeugt, dass ein Bombenangriff bevorsteht.
Das Festival hat sich schier zerrissen beim Versuch, Europas größte Filmparty zu feiern und trotzdem das Augenmerk auf die Misere jenseits der Croisette zu richten. Bei der Eröffnungsnacht wurde der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj live aus Kiew zugeschaltet. Er richtete das Wort an einen Raum voller Filmemacher und Journalisten, betonte, wie wichtig es für das Kino sei, nicht zu schweigen und dass die Ukraine den Krieg gewinnen werde. Zeremonie vorbei, Vorhang auf für den Eröffnungsfilm: "Final Cut", eine französische Zombie-Komödie. Was für eine Schizophrenie.
Einen ähnlichen faden Beigeschmack gab es bei Premiere des Films "Triangle of Sadness" (deutsch: "Dreieck der Traurigkeit"): Ruben Östlunds schrille (aber sehr witzige) Satire auf den Kapitalismus. Eine Yacht voller Superreicher erleidet Schiffbruch, die Passagiere stranden auf einer verlassenen Insel, auf dem die Putzfrau, die als einzige fischen und Feuer machen kann, zur Anführerin in der sozialen Hackordnung aufsteigt; das Werk ist einer der Lieblinge im Wettbewerb um die Goldene Palme. Doch den Film anzuschauen, inmitten einer Menge privilegierter und gestylter Frauen und Männer der Film-Elite, war an Ironie kaum zu überbieten.
Ukrainische Filmschaffende in Cannes
Ähnlich unwirklich waren die Gespräche mit ukrainischen Filmemachern in Cannes: Viele von ihnen hatten gerade noch im Krieg an der Front gekämpft, bevor es dann im Flugzeug nach Südfrankreich ging, wo sie etwas über ihre Filme erzählen - und die Situation in ihrem Land.
Regisseur Maksim Nakonechnyi sitzt in der Mittagssonne auf einem großen Balkon mit Sicht auf den Hafen von Cannes, als er über seinen Film "Butterfly Vison" spricht. Das Drama, das in der Wettbewerbs-Sektion "Un Certain Regard" läuft, erzählt die Geschichte einer ukrainischen Soldatin, die mit den posttraumatischen Folgen der Kriegserfahrung ringt.
Nakonechnyi räumt ein, wie seltsam es ist, am glamourösesten Filmfestival der Welt teilzunehmen, während sein Land nur wenige tausend Kilometer entfernt ums Überleben kämpft. Doch der ganze Glanz von Cannes könne auch helfen, einen höheren Zweck zu erfüllen, wenn er der Ukraine Aufmerksamkeit verleihe.
"Es ist für uns wichtig, hier zu sein, damit ukrainische Filme und Geschichten gesehen und gehört werden", sagt Nakonechnyi. "Vor dem Krieg wurde die ukrainische Perspektive an den Rand gedrängt oder ignoriert. Es gab diese falsche Wahrnehmung, dass wir nur Teil einer größeren, post-sowjetischen Kulturgeschichte seien. Das war ein Resultat der russischen Propaganda. Das ist nun vorbei, und es gibt kein Zurück. Die Welt sieht uns nun in unserer eigenständigen Identität, in all ihren Aspekten: kulturell, politisch, soziologisch, existentiell und metaphysisch. Eine Ukraine mit ihrer eigenen postkolonialen Identität."
Übersetzt aus dem Englischen von Julia Hitz.