Die digitale Gesellschaft
15. Juni 2012Am Anfang war das Internet wohl eher ein Tummelplatz computerverrückter Nerds. Dann wurde es Online-Shop, Partnerbörse, Spielwiese, Nachrichtenportal, soziales Netzwerk. Es wurde auch ein Ort der zwielichtigen Geschäfte, der kriminellen Machenschaften, ein Werkzeug für Waffenschmuggler, Kinderschänder, Betrüger und anderes übles Gesindel. Von vielen wird es immer noch mit spitzen Fingern angefasst, andere erkennen nach und nach seine Vorteile - sogar Politiker tun das, von denen einige anfänglich eher den Eindruck machten, dagegen anzukämpfen.
Was wären wir heute ohne Google, Wikipedia, Amazon und Facebook? Wer schreibt heutzutage noch Briefe mit der Hand und rennt damit zum nächsten Briefkasten, der im Zweifel auch noch schwer zu finden ist? Wer sammelt noch Straßenkarten, wenn man bei Google-Maps mal schnell nachgucken kann? Richtig - das Internet ist unser digitaler Begleiter durchs Leben geworden, und er wird es auch bleiben.
Neue Diskussionsansätze
Das wollen die beiden Autoren Markus Beckedahl und Falk Lüke in ihrem Buch "Die digitale Gesellschaft" deutlich machen. Viele alte Regeln werden durch die digitale Wirklichkeit umgeworfen, “ad absurdum geführt“, das Netz hat unser Leben längst verändert. Die Autoren führen etliche Beispiele an, wie die Sache mit der Handschrift. Früher war es ein Zeichen von Bildung, wenn man eine gute Handschrift hatte. Heute spielt die Handschrift keine so große Rolle mehr, da fast nur noch am Computer geschrieben wird.
Mit leichtem Grinsen aber ohne jegliche Häme werden Fehler einzelner Politiker im Umgang mit dem Netz aufgeführt: Das berühmte Internet-Stopp-Schild der ehemaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen im Kampf gegen Kinderpornografie ist vielen noch in bester Erinnerung. Als ließe sich jemand, der sich verbotene Kinderpornografie beschaffen will, durch einen solchen Hinweis aufhalten.
Die Urheberrechtsdebatte wird von Beckdahl und Lüke geradezu zerpflückt. Sie bringen Punkte an, die so in der breiten Debatte noch gar nicht aufgetaucht sind: "Vielen Filmkünstlern ist es zuwider, dass jemand aus ihrem Werk ein paar Sekunden herausnimmt und für etwas Neues verwendet. Sie empfinden das als Zerstörung. Aber diese Empfindung hat auch ihre Grenzen, wenn es sich nicht um Hinz und Kunz, sondern um Quentin Tarrantino handelt, der so etwas vorhat." Mit anderen Worten: Wenn andere mein Werk aufwerten, indem sie Teile daraus verwenden, dann habe ich mein gestriges Geschrei um mein Urheberrecht ganz schnell vergessen und zähle lieber mein Geld, das ich dadurch verdiene. Dann ist das alles gar nicht mehr so ein Teufelszeug.
Das Geschäft mit den Musikdateien
Anschaulich beschreiben die beiden Autoren das Verhalten der Musikindustrie zu Beginn des digitalen Musikzeitalters. Anfangs konnte man einen legal gekauften Song nicht beliebig oft brennen oder auf ein anderes Medium kopieren. Da hatten die Labels einen Kopierschutz drauf gelegt und den Usern den Umgang mit ihren gekauften Dateien unnötig schwer gemacht. Kein Wunder, dass viele entnervt zu illegalen Tauschbörsen wie KaZaa, eMule oder LimeWire gegangen sind.
Das änderte sich, als Apple mit iTunes und dem iPod auf den Markt stürmte. Die Nutzer nahmen das Angebot an, doch immer noch störten sie sich am Kopierschutz. Dann hat Apple mit dem kriselnden Plattenlabel EMI Electrola einen Deal gemacht: Wir geben euch eine Vorauszahlung, ihr gebt uns alle Songs, und lasst den Kopierschutz weg. EMI schlug ein, die anderen Major Labels folgten. Und die User auch: "Anders als es die Rechteindustrie oft hatte glauben machen wollen, sind viele Menschen grundsätzlich wohl doch gewillt, für Werke zu bezahlen - wenn sie dabei nicht entrechtet werden", stellen Beckedahl und Lüke fest. "Allein von 2009 auf 2010 stieg die Zahl der bezahlten digitalen Downloads im Bereich Musik um über 30% an.“ Seit sich die Musikindustrie von der Verkrüppelung der Musik verabschiedet habe, seien die Nutzer auch bereit dafür Geld auszugeben, sagen die Autoren.
Technik, Psychologie und Lösungen
Dies ist nur ein Beispiel von vielen aus allen möglichen Lebensbereichen, vom Shopping bis zur Politik, das die Autoren aufführen. Jedes für sich ist anschaulich beschrieben, auch für Laien ist es sehr einfach, Zusammenhänge zu verstehen. Technische Hintergründe werden genauso erklärt wie psychische Mechanismen beim Online-Shopping.
Für fast jedes Problem, das die Digitalisierung der Gesellschaft mit sich bringt, haben die beiden Lösungsvorschläge parat, die oftmals so einfach klingen, dass man sich erst fragt: Ja, warum ist das denn nicht schon längst geschehen? Schnell jedoch kommt der Leser auch zu der Erkenntnis: Das wird die Politik so schnell nicht erreichen. Zu komplex sind Gesetzeslagen in Deutschland und der EU, zu komplex die Probleme innerhalb der internationalen Gemeinschaft. Demokratische Staaten stehen unfreien Staaten gegenüber, die einen fördern das Netz, die anderen wollen es kontrollieren und nutzen es als Unterdrückungsinstrument.
Die beiden Autoren wollen aber auch gar nicht die Welt verbessern, und sicherlich ist es nicht deren Absicht, uns alle zu mit wehenden Fahnen kämpfenden Netzaktivisten zu machen. Sie klären auf, über die Macht des Netzes und derjenigen, die es nutzen. Sie weisen auf unsere Bürgerrechte hin und auf die Fehlstellen in den entsprechenden Gesetzen. Und schließlich geben sie einen gut verständlichen Exkurs in Sachen Netzpolitik. Damit wollen sie uns für den Moment sensibilisieren, in dem wir den Internetbrowser starten. Vorbei an politischem Kalkül, Psychologie, Vorurteilen und technischem Unverständnis sollen wir das Netz klug, besonnen und neugierig nutzen. Dazu gibt das Buch viele Anleitungen.
Das Netz wird nie "voll" sein
Das Internet ist schneller als die Gesellschaft. Es "kratzt an den Grundlagen der Rechtswissenschaften herum, (...) die über Jahrhunderte versucht haben eine Weltgemeinschaft souveräner Statten inklusive Völkerrecht zu definieren und auszugestalten", heißt es am Ende des Buches. Nun sei das Netz als zweites, als technisches Normensystem neben dem der Rechtswissenschaften da und schere sich nicht mehr darum, ob man Inhalte aus Timbuktu nach Irkutsk oder von Wanne-Eickel nach Herne transportieren wolle. Das Netz ist überall. Und nun sei es die Aufgabe nicht nur der Bürger oder Nutzer, sondern vor allem der Politiker, dies auch anzuerkennen und dementsprechend damit umzugehen.
Denn das Internet wird in Zukunft weder verschwinden noch irgendwann "voll" sein. So wünschen Beckedahl und Lüke sich, dass alle zusammen daran arbeiten, eine freie digitale Gesellschaft zu schaffen. "Digital ist besser. Machen wir uns gemeinsam auf den Weg - denn es gibt keinen anderen."
Markus Beckedahl ist Netzaktivist, bloggt seit 2002 für Netzpolitik.org und sitzt als Sachverständiger in der Enquete-Kommission Internet im Bundestag. Außerdem ist er Mitorganisator der jährlichen Blogger-Konferenz "re:publica". Falk Lüke ist Journalist und wird von allen Medien gerne als "Internet-Eerklärer" eingeladen. Er betreibt das kleine aber feine Blog "Kühlschranknotizen". Beide Autoren sind Gründungsmitglieder des Vereins "Digitale Gesellschaft e.V." und werden Ende Juni 2012 als Dozenten beim Global Media Forum 2012 der Deutschen Welle in Bonn zu Gast sein.
Angaben zum Buch:
Die digitale Gesellschaft - Netzpolitik, Bürgerrechte und die Machtfrage
Autoren: Markus Beckedahl und Falk Lüke
dtv Premium Verlag ISBN 978-3-423-24925-6
219 Seiten, 14,90 Euro