"Charlie Hebdo" gibt immer Anlass zum Streit
6. Januar 2016Die große Welle der Solidarität mit "Charlie Hebdo" ist vorbei, aber die Zeitschrift findet weiter ihr Publikum. "Wir brauchen ein Recht auf Gotteslästerung, das ist das gleiche wie andere Freiheitsrechte auch", erklärt Paul leidenschaftlich, "man muss es verteidigen". Er hat gerade auf dem Weg ins Büro am Kiosk an der Place de la Bastille die Sonderausgabe von "Charlie Hebdo" gekauft. Der Nieselregen treibt die Zeitungskäufer schnell weiter und nur hin und wieder greift jemand zu der Satirezeitschrift. Der smarte Anfang-Dreißiger Paul aber ist ein überzeugter Anhänger, wenn er auch wegen seines Jobs als Unternehmensberater lieber anonym bleiben will. "Ich kaufe es regelmäßig, mir gefällt wie sie internationale Themen behandeln, aber auch wie sie bestimmte Entwicklungen in der französischen Gesellschaft aufgreifen."
Eine Stimme gegen die politische Korrektheit
"Charlie" hat einen entschieden modernen Ton gefunden, meint Paul, die Zeitschrift sei ein Korrektiv gegen die politische Korrektheit. Denn die übrige Presse in Frankreich sei sehr den politischen Lagern verhaftet und viel zu stromlinienförmig. Der Leitartikel zum Jahrestag des Anschlags auf die Redaktion von Laurent Sourisseau, der nach dem Attentat Chefredakteur der Zeitschrift wurde, ist das schiere Gegenteil: Er polarisiert in alle Richtungen. "Riss", so sein Spitzname, attackiert gleichermaßen durch den Koran radikalisierte Fanatiker wie auch Gläubige anderer Religionen, die darauf gesetzt hätten, dass "Charlie Hebdo" scheitern würde."
"Es war undenkbar, dass im 21. Jahrhundert in Frankreich eine Religion Journalisten umbringen würde", heißt es. Aber nicht "zwei kleine Armleuchter in Kapuzenpullis" würden am Ende das Lebenswerk der Zeichner und Autoren zerstören, beschwört Riss mit Blick auf die Attentäter. Er setzt dagegen auf "die Überzeugung der Atheisten und Laizisten, die noch mehr Berge versetzen können als die der Gläubigen".
Im Interview mit BFMTV verteidigt Riss seine Titelzeichnung gegen Angriffe, etwa durch den konservativen Politiker Alain Juppé, der die Darstellung von Gott als Terrorist "nicht lustig" fand. "Warum die Aufregung, so etwas haben wir doch schon immer gemacht", kontert der Chefredakteur. Man habe das Recht, ohne Gott zu leben, das sei in Frankreich Tradition seit Voltaire. Und Zeitungskäufer Paul bestätigt vehement: "Das Wichtigste ist die Freiheit, mit den Meinungen eines Blattes übereinzustimmen, oder sie abzulehnen." Er stimme auch nicht mit allem überein, was "Charlie Hebdo" veröffentliche, aber die Karikaturen und Artikel gäben immer Anlass zu einer Diskussion.
Die Freiheit in Frankreich bewahren
Auch andere Zeitschriften nehmen in dieser Woche das Thema der Freiheit in der französischen Gesellschaft auf. "Marianne" etwa beschwört auf der Titelseite: "Lachen, sich lustig machen, provozieren - das ist Frankreich." Das sei richtig so, meint auch Luis, der seine Extraausgabe von "Charlie Hebdo" gleich in den Fahrradkorb verstaut: "Das sind Ideale, die man bewahren muss." Er kaufe die Satirezeitschrift nur zwei, drei Mal im Jahr, aber zum Jahrestag findet er es wichtig, seine Solidarität zu zeigen. Luis fühlt sich stärker mit der Vergangenheit des Blattes verbunden: "Cabu, Charb und Wolinski, das waren die Zeichner unserer Jugend." An sie reicht seiner Meinung nach keiner von den Neuen ganz heran. Diese Tradition und die nach wie vor akute Bedrohung schaffen für "Charlie" inzwischen Probleme. Es ist schwierig, neue Talente anzuziehen. Und einige der Überlebenden, wie Karikaturist Ronald Luzier "Luz", haben inzwischen unter dem Druck der Ereignisse das Blatt verlassen.
Beim zweiten Mal haben sie Frankreich getroffen
Das Viertel hinter der Place de la Bastille leidet inzwischen darunter, nicht mehr nur mit dem Anschlag auf Charlie Hebdo verbunden zu werden. Zeitungsverkäufer Ahmad in seinem Kiosk findet, die Stimmung sei gedrückt seit der zweiten Welle von Attentaten auf das Bataclan und mehrere Restaurants:"Zu Weihnachten und Sylvester war es hier halb leer", sagt er und zeigt auf die umliegenden Bistrots.
Die Leute sind beunruhigt und die Zahl der Touristen sei auch drastisch gesunken, er verkaufe kaum noch Tickets für die Bus-Rundfahrten zu den Sehenswürdigkeiten. "Beim ersten Mal haben sie die Journalisten getroffen, und wir haben alle unsere Solidarität gezeigt", meint ein Anwohner. Beim zweiten Mal aber hätten sie die Jugend von ganz Frankreich getroffen, jetzt seien alle gefragt, sich gegen solche Gewalttaten zu stellen.
An diesem Morgen verkauft Ahmed vielleicht alle zehn Minuten ein Exemplar von "Charlie". "Es ist nicht zu vergleichen mit dem vorigen Jahr, wo die Leute bis hinter den Metro-Eingang anstanden, um die erste Ausgabe nach den Anschlägen zu kaufen." Heute habe er so viele von den Zeitschriften, dass es für alle Käufer reiche und das Interesse sei viel geringer.
Eine Million Exemplare wurden für den Jahrestag gedruckt, sie werden wohl ihre Abnehmer finden, aber der Sensationserfolg ist vorbei. 25 Stück verkauft Ahmed normalerweise von einer "Charlie" Ausgabe: "Sie haben eine gedruckte Auflage von ungefähr 100.000, und dazu noch rund 200.000 Abonnenten. Es geht ihnen inzwischen wirklich gut." Beobachter der französischen Medien vermuten, dass die Satirezeitschrift inzwischen zur wohlhabendsten Publikation am Markt geworden ist, was auch zu Streit in der Redaktion geführt hatte.
Immer neuer Anlass zum Lachen
"Ehrungen! Zum Verzweifeln!", heißt es auf der Titelseite der eigentlich berühmteren Satirezeitschrift "Canard enchainé" zum Jahrestag der Attentate. Und die Kollegen verspotten liebevoll die Welle der offiziellen Auszeichnungen, die in dieser Woche auf die Toten und Überlebenden von "Charlie Hebdo" niedergeht. Ein Querkopf mit anarchistischen Neigungen wie der ermordete Zeichner Cabu werde jetzt vom Elysée-Palast dekoriert! Von der Armee gefeiert und am Sonntag auch noch von Alt-Popstar Johnny Hallyday besungen, der politisch als Mann der Rechten gilt!
Das ist in den Augen der Kollegen Realsatire, wie sie selbst "Charlie Hebdo" nicht irrwitziger hätte erfinden können. Und dass schließlich auf der Tafel, die Präsident Hollande zum Auftakt der Gedenkwoche an den früheren Redaktionsräumen in der Rue Nicolas-Appert aufhängen ließ, der Name des getöteten Karikaturisten Wolinski falsch geschrieben war - das passt einfach ins Bild. "Null Punkte für Rechtschreibung", verpassen die Journalisten dem Präsidentenpalast. Satire ist eben überall, besonders wenn der Staat seine schärfsten Kritiker ehren will.