Cherson - Rückkehr in eine befreite Stadt
24. November 2022Ein Jahr lang war ich nicht mehr in Cherson. Nach so langer Zeit nach Hause zurückzukehren hätte ich schon in Friedenszeiten aufwühlend gefunden. Doch meine Heimatstadt ist ein Zuhause mitten im Krieg. Mitte November kehrte die ukrainische Armee nach Cherson zurück, die russischen Streitkräfte zogen sich zurück auf das andere, linke Ufer des Dnipro-Flusses. Die Stadtbewohner umarmen seitdem täglich ukrainische Soldaten, bitten um Autogramme, stehen Schlange für Wasser und humanitäre Hilfe. Sie lernen, sich bei Artilleriebeschuss zu verstecken und erzählen über ihr Leben während der neunmonatigen Besatzung.
Heimweg voller Checkpoints
Noch bleibt Cherson eine gesperrte Stadt, der Zugang ist eingeschränkt. Militärs und Polizei reden von "Stabilisierungsmaßnahmen". Journalisten und humanitäre Helfer werden nur unter militärischer Begleitung hinein- und wieder hinausgelassen.
Die Fernstraße in die benachbarte Gebietshauptstadt Mykolajiw wird immer befahrener. Zu sehen sind Kolonnen von Lastern mit Lebensmitteln, Sprit, Notstromaggregaten und humanitärer Hilfe. An einigen Stellen ist die Fahrbahn zerbombt, Umleitungen führen über Feldwege, die im Novemberregen kaum passierbar sind. "Ihr Lieben, wo fahrt Ihr denn hin, da ist großer Matsch", sagt eine ältere Frau im Dorf Kisseliwka und zeigt auf einen steckengebliebenen Postwagen.
Über den Dnipro spannen sich noch die Reste der berühmten Antoniwskij-Brücke, der größten in Cherson. Über diese Brücke zogen russische Truppen Ende Februar in die Stadt - und sprengten sie beim Abzug. Ein älteres Graffito beschwört den russischen "Sieg", eine frischere Aufschrift beschimpft die Besatzer.
Steht man hier nur kurze Zeit ungeschützt im Freien, wird direkt vom anderen Flussufer geschossen. Die russischen Soldaten haben dort, nahe dem Städtchen Oleschki, ihre Stellungen errichtet. Ukrainische Soldaten von einem Checkpoint in der Nähe verstecken uns unter einer Brücke und empfehlen uns, schnell weiterzureisen.
In Schutzweste in der Heimatstadt
Zwischen den Checkpoints sind die Einwohner Chersons hin- und hergerissen: zwischen der Freude über die Befreiung und der Angst vor einer neuen Phase im Krieg, diesmal als ukrainische Stadt in unmittelbarer Nähe zur Front.
Nicht alle Bewohner, sagen die Soldaten, hätten das schon komplett begriffen. Es gebe kein funktionierendes Warnsystem vor Luftangriffen, keine sicheren Schutzräume. Nun aber nimmt die russische Armee Cherson vom anderen Ufer unter Beschuss. Immer öfter sind Explosionen im Stadtgebiet zu hören. Getroffen werden mal Gebäude der zivilen Infrastruktur, mal Armeeobjekte, mal Wohnhäuser. Es gibt erste Tote und Verletzte unter den Zivilisten.
Währenddessen reißen zwei Männer an der Perekopska-Straße ein großes Plakat ab, auf dem die russische Annexion gepriesen wird. Überall in der Stadt, sagen die Männer, hätten die Russen solche Plakate angebracht. "Noch mindestens eine Woche Arbeit für uns", sagt einer von ihnen.
Teile des Plakats faltet Juri Sawtschuk vorsichtig zusammen. Er ist Direktor eines Museums, das sich der Ukraine im Zweiten Weltkrieg widmet. Sawtschuk kehrte in den ersten Tagen nach der Befreiung nach Cherson zurück, um den jetzigen Krieg zu dokumentieren. "Ich habe bereits 50 Interviews dazu geführt", sagt der Historiker stolz.
Und die Gesprächsbereitschaft ist tatsächlich groß. Fast jeder erzählt bereitwillig seine Geschichte des Widerstands. Serhij Anatolijowitsch, ein pensionierter Arzt, bietet sich an, mir eine "Folterkammer" der russischen Besatzer zu zeigen. Sie liegt in einer ehemaligen Haftanstalt, einem der Orte, in denen die russische Verwaltung Regimegegner eingesperrt hatte. Am Eingang stehen Polizisten, innen dokumentieren Ermittler Folterspuren. "Morgens hörte man von dort die russische Hymne, die Inhaftierten wurden gezwungen, sie zu singen", erinnert sich eine Verkäuferin aus einem benachbarten Geschäft. "Abends gab es furchtbare Schreie." Nach der Befreiung schrieb jemand "Ruhm der Ukraine und ihren Streitkräften" auf die Tür.
Minen-Schilder im Stadtgebiet
Vor ihrem Abzug haben russische Militärs viele Häuser vermint. Jetzt arbeiten Minenräumkommandos in vielen öffentlichen Gebäuden - sogar in der Stadtbibliothek. Hier hatte sich der russische Geheimdienst SBU einquartiert. Ein Polizeirevier konnte nicht vollständig geräumt werden und wurde sicherheitshalber gesprengt.
Andere Objekte der kritischen Infrastruktur hat die russische Armee vor ihrem Abzug selbst in die Luft gejagt. In Cherson gibt es kein fließendes Wasser, keinen Strom. An den noch intakten privaten Brunnen stehen Menschen mit Eimern und Flaschen Schlange. Nur nach und nach kommen Mobilfunk und Internet zurück. In den ersten Tagen wurden Starlink-Terminals geliefert, Menschen versammeln sich an einigen öffentlichen Hotspots. "Gleichzeitig können sich nur 64 Personen einwählen", warnt ein Schild im Park des Ruhms. Auch den Funkturm in Cherson haben die Russen gesprengt. Er war als erstes von ihnen besetzt worden, um das ukrainische Fernsehen abzuschalten. Nun bewacht Wladimir, ein älterer Mann mit Tarnjacke, das, was noch von dem Turm übrig ist. Wladimir leidet an einem Bandscheibenvorfall, will aber auf keinen Fall ins Krankenhaus. "Wenn ich nicht da bin", sagt er, "wer soll dann auf das alles hier aufpassen? Es gibt hier wertvolle Ausrüstung, Metalle. Ich will nicht, dass jemand das klaut."
Wladimir erzählt, dass er sich vor dem russischen Einmarsch in einem Vorort von Cherson bei der territorialen Verteidigung angemeldet hatte. Danach habe er die ukrainische Seite über russische Truppenbewegungen zu einem strategisch wichtigen Flughafen in der Nähe informiert. "Ich kauerte auf einem Friedhof und tat so, als würde ich um meine Frau trauern", sagt er. "Ich habe mir alles gemerkt und unseren ukrainischen Aufklärern alles weitergegeben. Ich sagte, es gebe in einem Geschäft zwei Ventilatoren und fünf Fleischdosen. Das war unser Geheimcode für Hubschrauber und Truppentransporter."
Schlangestehen für alles
Die Versorgung in Cherson ist größtenteils noch nicht wiederhergestellt. Die Bewohner verbringen ihre Zeit in Schlangen, um Wasser, einen Internet-Zugang oder ukrainische SIM-Karten zu bekommen. Am ersten Tag der Befreiung wurde am Platz der Freiheit gefeiert. Noch immer gibt es täglich Konzerte, doch die meisten Menschen stehen mittlerweile lieber an, um kostenlos Hygieneartikel, Lebensmittel, warme Kleidung und Medikamente zu bekommen. In den Geschäften gibt es noch immer einige russische Produkte, vor allem Getränke oder Zigaretten, doch es werden immer weniger. Seit Oktober, sagen die Verkäufer, habe es keine Nachlieferungen mehr gegeben.