Christ sein im Reich der Mitte
1. November 2004Rund 30 Millionen evangelische und etwa 35 Millionen katholische Christen leben nach offiziellen Schätzungen in der Volksrepublik China. Noch einmal so viele sollen so genannten Untergrundkirchen angehören. Dennoch sind sie eine Minderheit und werden zum Teil heftig von staatlichen Behörden verfolgt. Unter dem Druck des Mao-Regimes mussten die westlich orientierten Kirchen Chinas in den 1950er Jahren ihre Verbindungen ins Ausland abbrechen. Das behördliche Kontrollsystem der Religionen aus den Zeiten Maos hat den raschen Wandel in China bis heute überstanden: Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht die Regierung in Peking Christen irgendeiner Untergrundkirche verhaften lässt.
Erfolgreicher Glaubensfilm
Achtteilig und dokumentarisch präzise, fesselt regionalen Internet-Berichten zufolge derzeit ein Film ein immer schneller wachsendes Publikum: "Jesus in China: Das Evangelium kommt". Der Autor ist kein Geringerer als Yuan Zhiming, einer der führenden Dissidenten der 1989 niedergeschlagenen Demokratiebewegung. Der Film ist unter abenteuerlichen Umständen entstanden: 2002 und 2003 kehrte Zhiming zweimal illegal aus seinem amerikanischen Exil nach China zurück, führte Interviews und drehte Außenaufnahmen. "Der Film hat unter Intellektuellen und Politikern breites Echo gefunden", erklärt Chen Kuide, ebenfalls Dissident im Exil und Berater der Dokumentationsreihe. "Die modernen chinesischen Intellektuellen glauben, dass nahezu alle hoch entwickelten Staaten christlich tradierte, puristisch-evangelische Länder sind." Von daher seien den Intellektuellen christliche Überlieferungen und Werte sympathisch.
Christentum auf dem Vormarsch
Den Glauben als Kraft zur Erleuchtung und Erneuerung ganzer Nationen und Staaten anzusehen, das ist in China weder neu noch allein dem Christentum vorbehalten. Auch einheimische Glaubensrichtungen wie die Meditationsbewegung Falun Gong erfreuten sich einst großer Beliebtheit. Dass aber ausgerechnet die westlich-christlichen Kirchen in China so stark werden konnten, erstaunt sogar die Experten. Mittlerweile gibt es in China laut internen Schätzungen fast genauso viele Christen wie Buddhisten. "Die Untergrundkirchen sind sehr dynamisch, sowohl im katholischen als auch im protestantischen Bereich", erklärt Christine Kupfer, Religionsforscherin für China. "Die Protestanten haben sehr starke Netzwerke – familiäre und verwandtschaftliche."
Religion als Staatenmodell
Für radikale Dissidenten in Übersee ist das Christum bei weitem nicht nur fremdartige Seelenmassage. Sie sehen im abendländischen Glauben eine Quelle für moderne politische Wertvorstellungen. "Zum Beispiel stammt das Misstrauen gegenüber Menschen und ihrer Macht aus christlichem Glauben", erklärt Chen Kuide. "Folgerichtig stellt sich die Frage, wie man die Mächte politisch gegeneinander ausbalanciert." Auch der christliche Grundsatz "vor Gott sind alle gleich" liefere gute Argumente zur Entwicklung der Gesellschaft. "Wir dürfen nicht vergessen, dass es die christlichen Kirchen gewesen sind, in denen sich ein ganzes System von Gewaltteilung, Machtkontrolle und Wahlen entwickelt hat", beschreibt Kuide die Grundzüge der weltlichen Staatenwelt.
Intellektuelle Seitensprünge
Staatsführer Jiang Zemin hat mehrfach wissen lassen, er betrachte Religion als eine positive Kraft bei der Modernisierung und für die Stabilität im Land. Institute für Religionswissenschaft und sogar die Staatliche Akademie der Sozialwissenschaften geben Buchreihen mit Übersetzungen der Werke namhafter christlicher Theologen des 20. Jahrhunderts ins Chinesische heraus. Es bleibt die Frage offen, warum die sonst gegen Glaubensbewegungen unbarmherzige Obrigkeit in China gegenüber dem Christentum aus dem Westen beide Augen zuzudrücken scheint. "Das Christentum ist – im Gegensatz zu politisch schlagkräftigen Bewegungen wie die Falun Gong – für die jetzige Regentschaft in Peking das weitaus kleinere Übel", bringt Christine Kupfer die Entwicklung auf den Punkt.