Christa Wolf: "Der geteilte Himmel"
6. Oktober 2018"In jenen letzten Augusttagen des Jahres 1961 erwacht in einem kleinen Krankenhauszimmer das Mädchen Rita Seidel. Sie hat nicht geschlafen, sie war ohnmächtig. Wie sie die Augen aufschlägt, ist es Abend, und die saubere weiße Wand, auf die sie zuerst sieht, ist nur noch wenig hell. Hier ist sie zum ersten Mal, aber sie weiß gleich wieder, was mit ihr, heute und vorher, geschehen ist."
Rita Seidel, eine junge Frau, Anfang 20, ist die Heldin von Christa Wolfs über 200 Seiten langer Erzählung "Der geteilte Himmel". Die junge Autorin Christa Wolf, Anfang 30, wird mit diesem Buch, erst ihrem zweiten Prosatext, Ende 1962 über Nacht zu einer führenden Figur der DDR-Literatur.
Einen ersten Entwurf gibt es bereits 1960, weitere Anläufe folgen bis zum Sommer 1961, doch der Autorin erscheint die Liebesgeschichte, die sie erzählt, immer noch zu banal. Sie sucht nach, wie sie selbst es nennt, der großen "Überidee". Die Zeitgeschichte kommt ihr dabei auf fatale Weise zur Hilfe. Im August 1961 enden die politischen Entwicklungen in einem einschneidenden zeithistorischen Ereignis: dem Bau der Berliner Mauer.
Die Mauer wird das auseinander gehende Liebespaar des Romans endgültig trennen. Manfred, ein Chemiker mit großen Ambitionen, sieht für sich keine Perspektive in der DDR und setzt sich in den Westen ab. Er wird damit zum "Republikflüchtling". Rita, die zehn Jahre jüngere Lehramtsstudentin versucht ihn vergeblich zurückzuholen, wenige Tage vor dem Bau der Mauer. Sie selbst will ihm nicht folgen, sie bleibt aus Überzeugung in der DDR.
Liebesgeschichte als Zeitgeschichte
Am Anfang der Erzählung ist nur vage von den "Augusttagen des Jahres 1961" die Rede. Damit ist der zeitliche und auch politische Kontext der Geschichte gesetzt, auch wenn er explizit nicht benannt wird. Der Bau der Mauer wird in der gesamten Erzählung von Christa Wolf mit keinem Wort erwähnt. Sofort nach ihrem Abitur ist sie in die Partei SED eingetreten, ist Teil des politischen Systems. Nur indirekt lässt sich erahnen, was gemeint ist, wenn es heißt:
"Wir wußten damals nicht – keiner wußte es –, was für ein Jahr vor uns lag. Ein Jahr unerbittlichster Prüfung, nicht leicht zu bestehen. Ein historisches Jahr, wie man später sagen wird."
In diesem Land, dessen Teilung jetzt sichtbar und mit unmissverständlicher Härte vollzogen ist, wird auch das Liebespaar, das im Zentrum der Erzählung steht, für immer geteilt. Der Himmel im Titel der Erzählung wird zu einem Symbol dieser Teilung der beiden deutschen Staaten in Ost und West. Bei ihrer letzten Begegnung suchen Rita und Manfred für ihre vergehende Liebe, die dieser Teilung nicht standhält, einen letzten romantischen Fixpunkt am Firmament:
"Früher suchten sich Liebespaare vor der Trennung einen Stern, an dem sich abends ihre Blicke treffen konnten. Was sollen wir uns suchen?" "Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen", sagte Manfred spöttisch. "Den Himmel? Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer?" "Doch", sagte sie leise. "Der Himmel teilt sich zuallererst."
Politischer Zündstoff
Christa Wolfs Erzählung hat nicht nur diese poetische Ebene, sie enthält auch einiges an politischen Zündstoff. Rita ist diejenige, mit der die Autorin eindeutig sympathisiert: Ritas Bekenntnis zur DDR ist ein politisches Plädoyer, die Autorin überzeugte Sozialistin.
Aber Christa Wolf, deren Mann auch in der SED aktiv ist, lässt sich vor keinen propagandistischen Karren spannen. Sie übt deutliche Kritik an den Auswüchsen eines staatlichen Dogmatismus, denen Rita in der Lehrerausbildung oder bei einem Praktikum in einem Waggonwerk begegnet.
Die offiziellen Reaktionen auf die Veröffentlichung der Erzählung "Der geteilte Himmel" waren denn auch sehr geteilt. Die Parteiführung der SED verurteilte den Roman mit aller Schärfe, unterstellte Wolf unsozialistische Subversion.
Starke Verfilmung fürs Kino
Aber der Verkaufserfolg war groß. Nach einem Vorabdruck Ende 1962 erschien Christa Wolfs Erzählung im Mai 1963 in Buchform - und war sofort vergriffen. Die Auflage ging schnell über Hunderttausend, was für DDR-Verhältnisse extrem war. Vor allem die jungen Leser mochten diese Liebesgeschichte, die zwischen den Welten so tragisch untergeht.
Noch im selben Jahr schrieb Christa Wolf, sehr unterstützt von ihrem Mann, selbst das Drehbuch zur Verfilmung – zusammen mit Konrad Wolf, der auch die Regie übernahm. Der Kinofilm machte dann nicht weniger Furore und zählt heute für den Verbund Deutscher Kinematheken zum Kanon der 100 bedeutendsten Filme der deutschen Filmgeschichte.
Die Erzählung "Der geteilte Himmel" fand schnell ihren Platz im Kanon der deutschen Literaturklassiker. Sie wurde und wird in Schulen und germanistischen Seminaren viel gelesen – als ein Stück politische Literatur, das in Ost- und Westdeutschland vermutlich höchst unterschiedlich interpretiert wird.
Christa Wolf: "Der geteilte Himmel" (1963), Suhrkamp Verlag und als Taschenbuch bei dtv
Geboren wurde Christa Wolf am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe im heutigen Polen. Die Familie musste 1945 vor der anrückenden Roten Armee fliehen und landete in Mecklenburg. Schon als Abiturientin wurde Christa Wolf Parteimitglied der SED. Anfangs arbeitete sie als Wissenschaftlerin und Lektorin und entschied sich 1962, als freiberufliche Schriftstellerin Bücher zu schreiben. "Der geteilte Himmel" ist ihr zweites Buch.
Nach dem Fall der Mauer 1989 setzte sie sich für den Erhalt einer demokratisch veränderten DDR ein. Dem Vorwurf als IM Schriftsteller-Kollegen ausspioniert zu haben, begegnete sie 1993 mit der Veröffentlichung ihrer kompletten Stasi-Akte. Sie starb am 1. Dezember 2011 im Alter von 82 Jahren.