"Chávez verhärtet die Fronten"
5. Januar 2003Die Proteste in Venezuela haben die Ölproduktion des Landes inzwischen praktisch zum Erliegen gebracht. Das von Unternehmern, Gewerkschaften, Parteien, den meisten Medien und Teilen der Kirche gebildete Oppositionsbündnis fordert weiter den Rücktritt von Präsident Hugo Chávez oder sofortige Neuwahlen. Gespräche zwischen Regierung und
Gewerkschaften unter Vermittlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) blieben am Donnerstag (2.2.2003) ergebnislos.
Michael Lingenthal ist Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Venezuela. Fragen und Antworten.
Seit Wochen stehen sich Regierung und Opposition unversöhnlich gegenüber. Gibt es irgendwelche Anzeichen, dass sich daran in den nächsten Tagen etwas ändern könnte?
Nein, Präsident Chávez und Vizepräsident Rangel unterstreichen weiter ihre starre Haltung im Konflikt. Weder Rücktritt, noch vorzeitige Neuwahlen kommen für sie in Frage. Die Opposition wird aufgefordert, sich von ihren angeblich "extremen und zum Putsch bereiten Flügeln" zu trennen. CIA, USA und die Ölmultis seien die Drahtzieher im Hintergrund.
Und die Opposition?
Sie verschärft ihren Kurs mit der Ankündigung der "Steuerverweigerung" zu Jahresbeginn. Für sie ist Präsident Chávez "ein trauriger Unfall der Geschichte dieser Nation". Die Opposition beharrt daher auf ihrer Forderung nach Rücktritt und Neuwahlen. Sie droht mit einem "Marsch auf Miraflores" (Amtssitz des Präsidenten) und einer symbolischen Einnahme von Caracas. Dennoch: In aller Schärfe der Auseinandersetzungen gibt es Zwischentöne. Parlamentsvizepräsident Rafael Simón Jiménez, ein Koalitionspartner von Chávez, fordert, dass die Opposition im neuen Parlamentspräsidium vertreten sein soll. Teile der Opposition sind bereit, den Streik zu beenden, wenn international überwacht und einklagbar ein Datum für baldige Neuwahlen feststeht. In diesem Fall könnte Chávez sogar erneut kandidieren. Die große Frage ist allerdings, ob diese Einzelstimmen tatsächlich Signale zu einer politischen Lösung unter OAS-Mandat bedeuten, oder nur "Nebelkerzen" sind.
Am 30. Dezember ist mit Divisionsgeneral Carlos Alfonso Martínez eine der Symbolfiguren der Opposition verhaftet worden. Wer ist dieser Offizier?
Carlos Alfonso Martínez gehört zu den Generalen, die auf der "Plaza Francia" seit dem 22. Oktober den "verfassungsgemäßen Ungehorsam" erklärt haben. Am 11. April war er derjenige, der zuerst öffentlich, eindringlich und wohl begründet, Präsident Chávez den Gehorsam aufkündigte und erklärte, dass die "Guardia Nacional" (Berufssoldaten in den Streitkräften, in vielen Funktionen dem deutschen Bundesgrenzschutz vergleichbar) nicht zur Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt werden dürfe. Am 30. Dezember wurde der General von einem Kommandounternehmen der politischen Geheimpolizei (DISIP) festgenommen. Ein erster Versuch der Festnahme scheiterte noch am Widerstand der Demonstranten und Bürger, die auf einem Platz nahe des Hauptquartiers der Guardia Nacional eine Ansprache von General Martínez hörten. Bei der Verhaftung verletzte der Staat so viele Vorschriften und Rechtsnormen, dass am 31. Dezember ein Richter verfügte, General Martínez sei aus seinem Hausarrest im Gelände des Verteidigungsministeriums auf "freien Fuß" zu setzen sei. Diese Verfügung wird nicht umgesetzt, der Genral ist weiter im Hausarrest, sein weiteres Schicksal ist ungewiss.
Venezuela ist einer der wichtigsten Ölproduzenten der Welt - aufgrund des Streiks der Ölarbeiter ist Benzin knapp. Wie gehen Politiker und Bevölkerung mit der Krise um?
Vizepräsident Rangel bleibt der Prophet der "völligen Normalität" im Land, "in zwei bis drei Tagen ist die Benzinversorgung stabil" erklärt er immer wieder. Die Opposition verweist dagegen auf die kilometerlangen Schlangen vor den Tankstellen. Auch ich wartete kürzlich vergebens fünf Stunden lang auf eine Tankfüllung, weil inzwischen die Tankstelle "trocken" war. Außerdem sprechen die Zahlen für sich: Nach Oppositionsangaben wird derzeit weniger als zehn Prozent der normalen Ölproduktion erreicht. Für die Benzinimporte aus Brasilien hat der Volksmund schon eine kreative Sprachschöpfung gefunden. Benzin heißt in der Landessprache "gasolina" - nach den Treibstofflieferungen formuliert der Oppositions-Volksmund jetzt mit Blick auf den neuen brasilianischen Präsidenten "gasoLULA".
Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung ein?
Kein Erfolg am Verhandlungstisch, das scheint das unausgesprochene Ziel von Präsident Chávez zu sein. Er beharrt auf seinen Positionen und verhärtet die Fronten. Es hat den Anschein, als ob er durch seine unbeugsame Haltung die moderaten Kräfte der Opposition in die Enge drängen und die Teile der Opposition fördern will, die einen kompromisslosen Kurs fahren. Die Opposition hat sich gegen die Gewalt und für einem Weg der Referenden und der Neuwahlen entschieden. Aber je unwahrscheinlicher die Konsensbereitschaft seitens des Präsidenten ist, desto mehr gewinnen die Kräfte an Gewicht, die den Streikkurs verschärfen wollen.
Die Opposition steht vor einem internen Glaubwürdigkeitsproblem. Was soll sie noch versuchen, um Erfolge zu verzeichnen? Die Opposition hat als Trumpfkarte nur die massive Unterstützung der Bevölkerung sowie die führenden intellektuellen Köpfe und die meisten Massenmedien auf ihrer Seite.
Kann Venezuela die Staatskrise ohne Hilfe von außen lösen?
Die letzten Monate zeigen, dass der Konflikt eine Lösung mit zivilen Mitteln braucht. Putscherwartungen und Putschbefürchtungen wurden bislang gleichermaßen enttäuscht. Das Militär will oder kann offensichtlich keine politische Rolle in dem Sinne übernehmen, dass es eine Regierung stellt – auch wenn Teile des Militärs augenblicklich de fakto Chávez im Amt halten.
Für die zivile Lösung ist die Vermittlung durch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) von erheblichem Gewicht. Regierung und Opposition verfügen außerdem über zahlreiche Auslandskontakte und –kooperationen. Diese Institutionen können und müssen ihr Engagement verstärken, um Verhandlungslösungen zu fördern. Dazu können sie internationale Erfahrungen und Grundsätze von Konfliktregelungen einbringen und vor allem beiden Seiten deutlich machen, was das nationale und internationale Szenarium ist, wenn Verhandlungen scheitern.