Comic-Biografien: "Das Leben der Anderen"
15. September 2014Das Publikum war speziell und hatte auf den ersten Blick nur wenig mit Literatur zu tun: 20 junge Männer unterschiedlichen Alters - von 17 bis Mitte 20 - in grauer Anstaltskluft der Justizvollzugsanstalt Tegel. Sie alle schenkten dem Berliner Autor und Comic-Zeichner Reinhard Kleist ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Auf dem Programm stand "Cash", Kleists Comic-Biografie über den berühmten amerikanischen Countrysänger. 1968 hatte Johnny Cash in Kalifornien ein legendäres Live-Konzert vor Häftlingen gegeben. ("Folsom Prison Blues"), 1969 dann ein zweites als Album herausgebracht ("At San Quentin").
Der Ort der Veranstaltung im Rahmen von "Das Leben der Anderen" - so nennt das Festival sein Special zu den Comic-Biografien - war mit Bedacht gewählt: Schon im letzten Jahr gehörte der Berliner Jugendknast zum festen Programmpunkt des Internationalen Literaturfestivals. Bereits während der Lesung bombardierten die Häftlinge den Comic-Autor mit Fragen nach biografischen Details dieser Konzerte - und nach seiner handwerklichen Arbeit. Eine aufregende Begegnung, erzählt Kleist: "Ich muss sagen, ich habe noch nie so ein gutes Publikum gehabt. Zumindest der Beifall am Schluss war frenetisch."
Zwei weitere Veranstaltungen zu Comic-Literatur hat das Berliner Festival noch im Programm. Zusammen mit Reinhard Kleist diskutierten die Autoren David Vandermeulen (Belgien) und Alfonso Zapico (Spanien) am 14.September 2014 über die Frage, wie viel Fiktion in einer gezeichneten Biografie erlaubt sei. Für Kleist ein Spagat: "Bei einer öffentlichen Person wie Fidel Castro ist jeder Schritt dokumentiert, aber immer aus einer anderen Sicht. Aber das ist auch eine Freiheit, welche Version der Geschichte ich jetzt nehme. Für manche Szenen muss ich mir auch Dialoge komplett ausdenken."
Comics als literarische Kunstform
Gleich nach seinem Grafik- und Designstudium zog Kleist nach Berlin. Dort teilte er sich mit anderen Künstlern ein Hinterhof-Atelier im angesagten Szeneviertel Prenzlauer Berg. Und verarbeitete in Ruhe seine Reiseskizzen. Eine Auftragsreise nach Kuba - nach dem Rücktritt von Fidel Castro - hat seine Arbeitsweise nachhaltig verändert: Für ein Reisetagebuch war er ganz unbedarft dorthin gereist - und mit einer Kultur jenseits westdeutscher Revolutionsromantik konfrontiert worden. "Ich war hin- und hergerissen zwischen der Frage: Finde ich das jetzt gut, was hier passiert? Oder ist das nicht total furchtbar? Ich kam zurück und musste feststellen, ich habe überhaupt keine Antwort darauf gefunden."
Ein Kulturschock, der positiven Seiten hatte. "Ganz anders als in Berlin, wo sich keiner dafür interessiert, was man am Straßenrand macht oder zeichnet, wurde man da die ganze Zeit umringt von Leuten. Und kam sofort ins Gespräch." Kleist achtet sehr auf scheinbar nebensächliche Details, die oft viel über die Kultur eines Landes erzählen. Er schaut genau hin, fängt mit wenigen Strichen Atmosphärisches in seinen Arbeiten ein. "So z.B. der alte Mann in Kuba, der am Ufer sitzt und übers Meer guckt. Da ist dann noch eine andere Ebene dahinter, die von der Sehnsucht erzählt, aus dem Land rauszukommen."
Ausgezeichnete Arbeit
Preise hat Reinhard Kleist als Comic-Autor und Zeichner schon reichlich bekommen: seine Comic-Biografie über den kubanischen Staatschef Fidel Castro - ein Buch von immerhin 288 Seiten - wurde 2011 als "Bester Deutscher Comic" ausgezeichnet. 2013 folgte der Jugendliteraturpreis und in Frankreich die Auszeichnung als bester historischer Comic für seine Bildergeschichte über den jüdischen Boxer Hertzko Haft. Haft hatte die Konzentrationslager der Nazis überlebt - und stieg nach dem Krieg für die Alliierten in den Ring.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) druckte die eindrucksvolle Lebensgeschichte als Fortsetzungs-Roman ab - ein großer Erfolg beim Lesepublikum. Die englische Fassung "The Boxer" ist aktuell für den hochdotierten Ignatz Award für die "Beste Graphic Novel" in den USA nominiert - eine doppelte Anerkennung auch für ihn als Künstler."Für mich gibt es eine Verbindung zwischen den malerischen Aspekten der Comics, der experimentellen Form und dem Geschichtenerzählen. Und das Geschichtenerzählen war schon immer meine Passion."
Comics als Weltsprache
Die historischen Comic-Biografien von Reinhard Kleist sind auch international gefragt. "1914 - ein Maler zieht in den Krieg" über das kurze Leben des Franz Marc, gehört ebenso dazu, wie sein aktueller Comicstrip über die somalische Sprinterin Samia Yusuf Omar, die bei den Olympischen Spielen Rekorde lief. Sein deutscher Hausverlag Carlssen verkauft die Rechte inzwischen weltweit: Comics sind Weltsprache, sagt Kleist. Und sie können sehr effektiv beim Erlernen einer Fremdsprache eingesetzt werden. Wer die Bildergeschichte schon mal verstanden hat, lernt auch Vokabeln und Satzbau schneller.
Kleist, Jahrgang 1970, ist häufig für das Goetheinstitut in der Welt unterwegs. In seinen Workshops bekommt er ganz direkt mit, was gerade junge Leute in diesen Ländern bewegt." Als ich in Amman gewesen bin, habe ich festgestellt, das läuft hier ja genauso ab wie in Berlin. Aber in vielen Ländern habe ich mitbekommen, dass da sehr oft so ein Sehnsuchts-Moment spürbar war. Wie zum Beispiel in Jordanien, wo sie nicht so richtig aus dem Land rauskommen. Es gibt eben nicht an jedem Wochenende ein Rockkonzert."
Zeichnen als Künstler-Performance
Gerade packt er seine Koffer und Zeichenutensilien für einen sechswöchigen Aufenthalt in Indonesien - auf Einladung des dortigen Goetheinstitutes. Das internationale Literaturfestival auf Bali bietet jetzt im Herbst Kurse und Workshops mit dem Berliner Künstler an. Der Höhepunkt wird eine Art Live-Performance sein: Kleist zeichnet vor Publikum per Beamer Szenen aus seiner Comic-Biografie "Cash", während eine Band Musiktitel der amerikanischen Country-Legende spielt.
"Sie haben es tatsächlich geschafft, auf Bali eine Johnny-Cash-Coverband zu organisieren." Für Reinhard Kleist ist das eine echte Herausforderung. "Ich bin dann mit auf der Bühne, was ich ja sonst so nicht gewohnt bin. Und das ist dann schon eine Zitterpartie: wenn man einen Fehler macht, kriegen das alle mit", merkt er lachend an. "Da muss man schon sehr konzentriert arbeiten."