"Keine lebensfähige Lösung"
30. September 2014Deutsche Welle: Wie schätzen Sie das Sicherheitsabkommen zwischen den USA und Afghanistan ein?
Anthony Cordesman: Das ist ein Anfang. Das Sicherheitsabkommen und das Abkommen über den Status der Streitkräfte ist aber nur der Beginn in dem Bemühen, einen stimmigen Plan für den Übergang zu schaffen. Ein Bemühen, das nun mehr als ein Jahr aufgeschoben wurde. Das Problem ist, dass dieser Pakt nicht alle Details festlegt, wie die US-Hilfe aussehen wird. Er ändert nichts daran, dass es für einen Monat keine wirkliche Regierung in Afghanistan gegeben hat. Und auch nicht daran, dass Karsai keine arbeitsfähigen Ministerien für Verteidigung und Inneres hinterlassen hat, noch nicht mal ein effektives Management des Budgets. Die Herausforderung ist nun, in sehr wenig Zeit den Übergang zu gestalten.
Kommen wir noch einmal auf das Sicherheitsabkommen zurück. Mußte Afghanistan hier Teile seiner Souveranität abgeben?
Das Sicherheitsabkommen bedeutet nicht, dass man Souveranität abgibt. Das Abkommen legt bestimmte Regeln fest. Aber es ist immer noch die afghanische Regierung, die die Regeln für das Engagement und die Stärke der US-Präsenz festlegt. Und es ist die afghanische Regierung, die über die Art der Kampfeinsätze bestimmt und auch über die Friedensverhandlungen. Das Abkommen über den Status der Truppen legt nur fest, dass die Soldaten Immunität geniessen und US-Gesetzen unterstehen. Das gibt ihnen keine Immunität in dem Sinne, dass sie nicht unmittelbar ausgewiesen oder festgehalten werden könnten, wenn ein Verbrechen begangen wurde. Mit dieser Begrenzung der Souveranität sieht sich jedes NATO-Land konfrontiert. Jedes Land, das mit ausländischen Truppen und Alliierten zu tun hat.
Sie erwähnten, dass es dringend eines stimmigen Planes für die Gestaltung des Übergangs bedürfe. Was sind aus Ihrer Sicht die nächsten Schritte?
Zunächst einmal muss eine afghanische Regierung im Amt sein. Es genügt nicht, einen Präsidenten und einen Premierminister ins Amt einzuführen. Sie brauchen einen Verteidigungs- und einen Innenminister, die einen detaillierten Plan für die Zukunft der afghanischen Sicherheitskräfte aufstellen müssen. Insbesondere muß die künftige Größe der afghanischen Sicherheitskräfte festgelegt werden. Afghanistan unter seinem neuen Präsidenten muss die Stationierung und Stärke der regulären Armee, der Polizei und der lokalen Sicherheitskräfte bestimmen. Wie sollen sie ausgerüstet sein, wo sollen die US-Militärberater hingehen? Die USA und Afghanistan müssen dazu einen Kostenplan erarbeiten. Das sind alles Probleme, die für fast ein Jahr im Schwebezustand belassen wurden.
Der Präsident und sein Premierminister müssen nicht nur sicherstellen, dass die USA diesen Plänen zustimmen, sondern auch die anderen Verbündeten. Denn im Kern geht es ja um einen Ersatz von ISAF, deren Mandat am Ende des Jahres ausläuft. Und es geht um die Zivilverwaltung, die eine Schlüsselstellung einnimmt. Was passiert damit in einer Zeit, in der die afghanische Regierung quasi bankrott ist?
Lassen Sie uns über den US-Part reden. 10.000 US-Soldaten sollen bleiben. Meinen Sie, das ist eine realistische Größe?
Es ist wahrscheinlich zu wenig. Die ursprünglichen Empfehlungen sahen 16.000 Soldaten vor. Das ist jetzt eine minimale Streitkraft. Sie enthält nicht genug Berater und versetzt nicht in die Lage, mit den immer noch sehr schwachen afghanischen Sicherheitskräften zu operieren.
Die Zahl soll dann innerhalb eines Jahres ja auch noch um die Häfte gekürzt werden. Das ist keine lebensfähige Lösung für Afghanistan.
Befürchten Sie, dass Afghanistan genauso im Chaos versinken wird wie der Irak nach dem Abzug der amerikanischen Truppen?
Zunächst einmal konnten die USA im Irak nicht das Abkommen erzielen, dass sie nun in Afghanistan haben. Wir hatten keine Wahl: Die irakische Politik zwang uns, das Land zu verlassen. Und dann versank Irak nicht im Chaos, sondern in einem massiven politischen Kampf zwischen Sunniten und Schiiten, der zwischen 2012 und 2014 zu einem Bürgerkrieg wurde. Sie hatten einen gewählten Präsidenten, der sich die Sicherheitskräfte loyal machen wollte und dafür inkompetente Leute in Kauf nahm. Er setzte die Sicherheitskräfte nicht gegen externe Feinde, sondern gegen die Sunniten ein.
Zu einem gewissen Grad kann das auch in Afghanistan passieren. Wenn Sie zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen keine Einigkeit haben, wenn die Regierung das Land nicht zusammenhält und wenn Sie die militärischen Einsätze nicht ernsthaft betreiben, kann am Ende ein Sieg der Taliban stehen. Aber wir wissen nicht, ob das auch alles so passiert. Es ist wahrscheinlicher, dass sie begrenzte Gewinne der Aufständischen sehen. Sollte es keine effektive Regierung geben, wird der Norden seine eigenen Sicherheitszonen bilden und im Süden tun das die verschiedenen Paschtunen-Gruppen. Aber das kann heute noch niemand vorhersagen.
Anthony Cordesman ist Sicherheitsexperte am Washingtoner Center for Strategic and International Studies. Er ist unter anderem spezialisiert auf Afghanistan und den Mittleren Osten.
Das Gespräch führte Gero Schließ.