Corona: Debatte über Umgang mit Geimpften
30. Dezember 2020In Deutschland ist derzeit in den Medien und von manchen Politikern ziemlich viel Kritik an der Corona-Politik zu hören. "Deutschland war im Frühjahr dieses Jahres so etwas wie ein Champion im Kampf gegen die Pandemie", sagte der Grünen-Politiker Janosch Dahmen und Mitglied des Gesundheitsausschusses des Bundestags der DW. "Aber wir haben den Vorsprung verloren und sind jetzt im Rückstand."
Aktuell betrifft die Kritik den holprigen Start der Massen-Impfung. Es gibt erstmal nur sehr wenig Impfstoff - mancherorts wie in Berlin viel weniger, als versprochen worden war. Unklar ist deshalb, wann alle, die es wollen, geimpft sein könnten.
Parallel wird trotzdem eine Debatte geführt, die - positiv gesagt - sehr vorausschauend ist. Andere sagen: voreilig. Wie umgehen mit Menschen, die nach einer Impfungoder wegen einer überstandenen Infektion für eine längere Zeit, Genaueres weiß man noch nicht, immun sind? Können sie wieder normaler leben als die Noch-Nicht-Geimpften?
Kommt die Zwei-Klassengesellschaft?
Eine prominente Stimme in der Diskussion ist der Vorsitzende der beim Bundesgesundheitsministerium angesiedelten Ständigen Impfkommission. Das ist das Gremium, dessen Impf-Empfehlungen bundesweit medizinischer Standard sind. "Über Privilegien für Geimpfte muss man eine gesellschaftliche Diskussion führen", sagte Vorsitzender Thomas Mertens der DW. "Ich persönlich glaube, dass 'Privilegien' bei privaten Vereinbarungen denkbar wären, wenn der Impfstoff für alle zur Verfügung steht." Also zum Beispiel in Restaurants, Kinos, bei Konzerten oder auch Airlines. "Privilegien sollte es nicht geben für Dinge, die die 'Daseinsvorsorge' betreffen," also in Krankenhäusern, Rathäusern oder im öffentlichen Nahverkehr.
In Teilen der Bundesregierung und bei manchen Parlamentariern ist die Meinung eine ganz andere. "Keine Sonderbehandlung für Geimpfte", hieß es von Bundesinnenminister Horst Seehofer. Manche Bundestagsabgeordneten brachten ein gesetzliches Verbot ins Spiel. "Die SPD-Fraktion prüft derzeit gesetzliche Maßnahmen, wie Ungleichbehandlungen von Nicht-Geimpften und Geimpften durch die Privatwirtschaft ausgeschlossen werden könnten", sagte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Fechner, in einem Interview mit der "Welt".
Er sei in dieser Frage "selber hin- und hergerissen", räumte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ein. "Ich finde, wir sollten da nicht zu viel regulieren." Es war Spahn selbst, der bereits im Frühjahr eine ähnliche Debatte mit unentschiedenem Ausgang angestoßen hatte.
"Überhitzte Debatte"
Rückblick, erste Pandemie-Welle: Über das Bundesgesundheitsministerium wurde bekannt, dass dort die Idee eines Immunitätsausweises die Runde machte. Das sorgte zunächst einmal für viel Gegenwind in der Öffentlichkeit. Spahn entschloss sich, den Ethikrat anzurufen - sollte doch die Runde der 24 Top-Wissenschaftler ein Votum äußern. Das Ergebnis, es kam nach langen Beratungen im September, fiel nicht eindeutig aus. Die Hälfte des Rats könnte sich, wenn die Datenlage klarer darüber ist, wie lange jemand immun ist, einen Immunitätsausweis "anlass- und bereichsbezogen in bestimmten, gesetzlich zu regelnden Fällen" vorstellen. Die "Contra"-Fraktion lehnte einen Ausweis nicht nur "wegen der wissenschaftlichen Ungewissheit ab, sondern auch aus ethischen und praktischen Gründen". Menschen könnte zum Beispiel der Besuch der Ausbildungsstätte verwehrt werden.
Aktuell sagte die Vorsitzende des Ethikrates, Alena Buyx, in einem DW-Interview, sie halte Privilegien für Geimpfte für die gerade angelaufene Impfphase als wenig zielführend und die ganze Debatte für "überhitzt". Schließlich kämpfe das Land gerade mit dem zweiten Lockdown und einer sehr heftigen Pandemie-Welle. Da müsse man sich auf das Verbindende konzentrieren.
Geimpft und trotzdem ansteckend?
Ob Immunitätsausweis oder Impfausweis - beide sollen letztlich dasselbe bescheinigen: ob jemand andere anstecken kann. Doch gerade da herrscht noch Unsicherheit. "Die wichtige Frage, ob ein Geimpfter infizierbar bleibt und gegebenenfalls Virusüberträger sein kann, ist weiterhin nicht geklärt", so Mertens von der Impfkommission, also "ob eine Virusausscheidung durch einen Geimpften epidemiologisch noch relevant ist". Das heißt: Es ist vorstellbar, dass sich ein Nicht-Geimpfter zum Beispiel bei einer Party ansteckt, obwohl alle anderen Gäste geimpft sind. Auch bei der Regierungspressekonferenz in Berlin hieß es, man wisse derzeit nicht, wann mehr Daten dazu vorliegen werden.
Die Situation ist nicht einfach, weshalb sich so mancher Virologe, wie es gegenüber der DW heißt, an der derzeitigen Debatte gerade nicht beteiligen möchte.
In manchen Teilen der Wirtschaft steigt derweil die Ungeduld nach herben Umsatzeinbußen in den vergangenen zehn Monaten der Pandemie. Der bayerische Hotel- und Gaststättenverband kann sich gelockerte Corona-Regeln für Geimpfte gut vorstellen. Die australische Airline Qantas kündige an, auf bestimmten Strecken nur noch Geimpfte mitnehmen zu wollen.
Andere Länder gehen derweil weniger zaghaft voran. Die Regierung in Großbritannien denkt über technische Lösungen nach, mit denen etwa Restaurants Impfverweigerern den Zutritt verbieten könnten. In den USA arbeiten Unternehmen wie IBM bereits an digitalen Impfausweisen. Russland gab bekannt, einen solchen Ausweis ab Januar einzuführen. Moskaus Bürgermeister stellte Geimpften bereits Erleichterungen im Alltag in Aussicht.
"Es wird Monate dauern"
Mit der in Deutschland angelaufenen Impfung soll perspektivisch eine "Herden-Immunität" erzielt werden. Das wäre sozusagen die Rückkehr des normalen Lebens. Doch dazu müssten sich 60 bis 70 Prozent impfen lassen. Umfragen zur Impfbereitschaft zufolge könnte es knapp werden. "Und das Erreichen eines solchen Zustandes wird Monate dauern und hängt von den bekannten Faktoren - Impfdosen, Impfzentren, Impfbeteiligung - ab", so Mertens.