Corona: Deutschland und die vierte Welle
24. Juli 2021Deutschland ist keine Insel. Und so wie in den europäischen Nachbarstaaten steigt die Zahl der neuen Corona-Fälle wieder an - nachdem die Pandemie durch einen gewaltigen Kraftakt zwischenzeitlich unter Kontrolle gebracht worden war. Jetzt ist die Sieben-Tage-Inzidenz wieder zweistellig. Die nächste Welle der Pandemie-Welle deutet sich an. Die Nationale Gesundheitsbehörde ist nicht überrascht. "Der Anstieg war zu erwarten, weil Delta ansteckender ist", sagte der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, kürzlich in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.
Folgt also ein neuer Herbst mit vollen Krankenhäusern? Die Bundesregierung hofft, das vermeiden zu können. Wichtigstes Instrument im Werkzeugkasten: Impfstoff. Impfen ermögliche "auch höhere Inzidenzen zu bewältigen, ohne dass das Gesundheitssystem überlastet wird", betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Durch das Impfen habe sich das Verhältnis von Fallzahlen und schweren Fällen verbessert. Zentral aber sei jetzt die Frage: "Wie viele Menschen lassen sich impfen?"
Die Bundesregierung hat sich erneut wissenschaftlich beraten lassen und gibt nun eine Impfquote von 85 Prozent für 12- bis 59-Jährige und von 90 Prozent für Über-60-Jährige als Ziel an. Damit sei der erneute Anstieg der Fallzahlen "beherrschbar", so Merkel.
Keine Herdenimmunität im Winter
Aber das ist beileibe nicht sicher. Das RKI veröffentlichte einige Tage nach der Pressekonferenz das Strategiepapier "Vorbereitungen auf den Herbst/Winter 2021/22". Das macht weniger Hoffnung: "Die Vorstellung des Erreichens einer 'Herdenimmunität' im Sinne einer Elimination des Virus ist nicht realistisch", heißt es darin. Aufgrund verschiedener Faktoren sei in Deutschland mit einem Anstieg der Infektionszahlen im Herbst und Winter 2021/22 zu rechnen, so die Autoren.
Wie viel Pandemie verkraften die Deutschen noch? Der Psychologe und Marktforscher Stephan Grünewald sagte der DW, viele seien "in einer inneren Habachtstellung, hoffen aber - auch weil die Risikogruppen durchgeimpft sind, dass es glimpflicher läuft als im letzten Jahr". Trotz einer gewissen "Selbstvergessenheit des Sommers ahnen die Leute, dass sich das zum Herbst hin wieder wandeln wird." Grünewald gehörte dem erst kürzlich beendeten Corona-Expertenrat von Ministerpräsident Armin Laschet in Nordrhein-Westfalen an. Laschet geht bei der Bundestagswahl im September als Kanzlerkandidat für CDU/CSU ins Rennen.
Kommt die Impfpflicht?
Inzwischen sind etwas über 60 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft. Und anders als im Frühjahr steht Impfstoff mittlerweile in ausreichendem Maß zur Verfügung. Doch laut Medienberichten lässt das Impf-Interesse nach. Auch das RKI meldet rückläufige Zahlen. Das Institut erwartet für die zweite Jahreshälfte eine "Impfquote von 70 bis 80 Prozent unter Erwachsenen". Für eine "breite Grundimmunität" werde das nicht reichen.
Kommt nun eine Impfpflicht? Nein, hat sich die Kanzlerin festgelegt. "Wir wollen keine Impfpflicht, sondern wir werben für das Impfen," gab Merkel als Devise aus. Auch für bestimmte Berufsgruppen soll es keine Impfpflicht geben - anders als zum Beispiel im Nachbarland Frankreich.
Stattdessen wird das bisherige rigide Impf-Management entlang von Altersgruppen aufgegeben. Dem Beispiel einiger Bundesländer folgend werden jetzt bundesweit mobile Impfteams eingesetzt - zum Beispiel vor Einkaufszentren oder auf Marktplätzen. Sich durch komplizierte Online-Formulare zu einem Impftermin durchklicken, das muss dafür niemand mehr. Geimpft wird, wer vorbeikommt.
Der Psychologe Grünewald begrüßt das: "Mobile Impfteams sind gut, um Milieus jenseits der bürgerlichen Mitte zu erreichen, wo es kulturelle Widerstände oder Sprachbarrieren gibt."
Pandemie weiter Teil des Alltags
Für die Deutschen ist die Pandemie weiterhin fester Teil des Alltags. Maskenpflicht, Abstands- und Hygieneregeln - die sogenannten Basismaßnahmen - wurden nie ganz fallen gelassen; viele arbeiten weiterhin im Home-Office. Tanzen und Party-Machen geht in Berlin zum Beispiel weiterhin nur im Freien; die Innenbereiche in den Clubs bleiben geschlossen.
Daran wird sich wohl zunächst nicht viel ändern. Die Basis-Maßnahmen sollen bleiben, kündigte Merkel an. Auch aus Rücksichtnahme auf alle, die sich nicht oder noch nicht impfen lassen können. Das RKI empfiehlt, die Basismaßnahmen bis zum nächsten Frühjahr einzuhalten.
Wird das Leben überhaupt irgendwann wieder so "normal" wie vor der Pandemie? So hochtourig wie vor Corona werde die Gesellschaft nicht mehr unterwegs sein, erwartet Grünewald. "Die Konsumorientierung wird sich wandeln", sagt der Psychologe. "Die Bürger werden nicht mehr in dem Maße shoppen, reisen, konsumieren und Kulturveranstaltungen besuchen, wie sie das vorher gemacht haben". Besonders bei den Älteren habe es eine Rückbesinnung auf den Nahbereich und die kleinen Freuden des Alltags gegeben wie Wandern, Backen oder Kochen. Die Menschen seien in keinem Aufbruchmodus; sie hätten sich eher in "einem beschaulichen Lebenskreis eingerichtet, der weiter ausstaffiert wird".
Inzidenz nicht mehr der alleinige Maßstab
Politisch sind nun erst einmal die Bundesländer gefragt, mit den steigenden Infektionszahlen umzugehen. Bei ihrer traditionellen Sommerpressekonferenz unterstrich Merkel die Verantwortung der Länder, auf die wieder "dramatische" Infektionsdynamik zu reagieren. Vor Ort brauche es gegebenenfalls Maßnahmen zum Abbremsen der Pandemie. Sollte der Wunsch nach einer neuen Bund-Länder-Runde - der deutschen "Corona-Taskforce" - aufkommen, wolle sie sich dem nicht verschließen.
Gesetzlich hat sich zuletzt einiges getan: Ende Juni ist die sogenannte Bundesnotbremse ausgelaufen, mit der etwa bestimmte Inzidenzwerte verpflichtend an regionale Ausgangssperren geknüpft wurden. Stattdessen gibt es neue Vorgaben für die Krankenhäuser. Die müssen zum Beispiel mehr Einzelheiten zu Covid-Fällen melden. Vor allem auch zu den leichteren Fälle, die nicht auf der Intensivstation landen. Auch der jeweilige Impfstatus wird registriert: Man will sehen, wie viele Fälle sogenannter Impfdurchbrüche es gibt. Das sind Patienten, die bereits geimpft sind und sich trotzdem infiziert haben.
Rund 6000 solcher Impfdurchbrüche hat das RKI seit Februar 2021 registriert (Stand 22. Juli). In seinem Strategiepapier befürchtet das RKI, dass davon zukünftig auch vermehrt Ältere betroffen sein könnten, "so dass es in Pflegeheimen zu schweren Covid-19 Ausbrüchen kommen kann".
Problemzone Schule
Ob die Zahlen stärker steigen, könnte sich recht bald zeigen. Anfang August enden in manchen Bundesländern die Sommerferien. Die derzeit vorherrschende Delta-Variante verbreitet sich besonders unter jungen Menschen. Werden die Schulen zu neuen Hotspots? Schließlich ist Unter-12-Jährige bislang kein Impfstoff zugelassen. Und für die 12- bis 16-Jährigen gibt es keine generelle Impfempfehlung. In der Folge sind 94 Prozent der Unter-18-Jährigen noch nicht geimpft.
Pascal Haag aus Nordrhein-Westfalen gehört zu den wenigen Geimpften. Der 16-Jährige hat dennoch Angst vor einer vierten Welle, sagt er der DW. "Die größte Gefahr sehe ich in den Mutanten, dass der erlangte Impfschutz nicht mehr wirkt", so Haag.
Seine Schule sei "bis auf das Öffnen von Fenstern" in keiner Weise vorbereitet auf eine weitere Corona-Welle. "Ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern wird, bis die vierte Welle kommt", befürchtet der 16-Jährige. Zwar gibt es Förderprogramm für Lüftungsanlagen und seit kurzem auch für mobile Luftreiniger. Doch dass davon auch etwas an seiner Schule ankommt, scheint er nicht zu erwarten.
Nach dem Beschluss der Kultusminister der Länder soll das neue Schuljahr auch an Pascals Schule mit "normalem" Präsenzunterricht starten. Er kritisiert das als verpasste Chance. "Online-Unterricht sollte zumindest in Teilbereichen und als Ergänzung zum Präsenzunterricht möglich sein." Schließlich hätten sich viele Schüler ganz neue Möglichkeiten des Lernens angeeignet. Das werde einfach ausgeblendet, aus dem Geschaffenen nichts gemacht.
Psychologe Grünewald warnt vor kurzsichtigem Handeln. Die Deutschen hätten "viele kluge Konzepte entwickelt, wie man Öffnung mit Kontrolle verbinden kann". Die gelte es nicht aus den Augen zu verlieren. Ein neuer Lockdown jedenfalls sei keine gute Idee.