Hadsch: Der Frust der Mekka-Pilger
6. Juli 2020Rund zweieinhalb Millionen Menschen aus aller Welt hätten Ende Juli in Mekka beim alljährlichen Hadsch, der muslimischen Pilgerfahrt, zusammenkommen sollen. Doch die große Wallfahrt wurde aufgrund gesundheitlicher Bedenken wegen der Corona-Krise als internationales Großereignis abgesagt. Statt einer unüberschaubaren Menschenmenge dürften sich nun womöglich nur wenige tausend Bürger Saudi-Arabiens sowie einige dauerhaft dort lebende Ausländer zusammenfinden. Bedingung: Sie müssen einen Mundschutz tragen. Wie viele genau es sein werden, ist derzeit noch offen.
Die drastischen Einschränkungen hat bei Pilgern in aller Welt Enttäuschung ausgelöst. Die lokalen Händler vor Ort, für die der Hadsch nicht zuletzt auch ein Geschäft ist, sehen ihren diesjährigen Umsatz bedroht.
Geplatzte Lebensträume
Einige seiner befreundeten Glaubensbrüder hätten sich mit der Pilgerfahrt dieses Jahr einen Lebenstraum erfüllen wollen, sagt Mohammed Tariq von der Cavan-Moschee in Irland. "Sie waren nicht traurig - sie waren mehr als traurig! Sie hatten sich darauf vorbereitet, das Haus ihres Herrn zu sehen und nun können sie nicht gehen", so Tariq im Gespräch mit der DW.
Enttäuschung herrscht auch im "Tamil Nadu Hajj Committee" in Indien. Die "Hadschis" dort seien betrübt, dass sie nicht reisen könnten, heißt es in einer Erklärung. Doch die Pilger akzeptierten die Entscheidung als Willen Gottes. Wie ihnen ging es frommen Muslimen überall auf der Welt: Von Minnesota bis Pakistan, von Nigeria bis Ägypten brachten sie ihre Enttäuschung zum Ausdruck.
Der Hadsch gehört zu den fünf Grundpflichten im Islam. Viele gläubige Muslime sparten ein Leben lang, um die Pilgerfahrt anzutreten. Ihre Enttäuschung gehe daher deutlich über den Frust einfacher Touristen über gestrichene Sommerurlaube hinaus, sagt der Islam-Kenner und Anthropologe Sean McLoughlin, der an der Universität Leeds in Großbritannien die Hadsch-Industrie erforscht.
"Die Absage hat eine starke Wirkung - psychologisch wie spirituell", so McLoughlin im DW-Gespräch. "Es geht hier zwar auch um eine hoch kommerzialisierte und zugleich politisch höchst bedeutsame Industrie. Doch für die einzelnen Pilger ist die Absage auch persönlich von enormer Bedeutung."
"Mekka fühlt sich wie tot an"
In dem von Zelten bedeckten Tal von Mina sowie rund um die noblen Hotels, die neben der Großen Moschee von Mekka thronen, herrscht ebenfalls Frust. Zunehmend spüren die saudischen Bürger, was der diesjährige Ausfall des knapp 11 Milliarden Euro schweren Pilgersektors für sie bedeutet.
"Natürlich sind wir enttäuscht", sagt Hashim Tayeb. Der Händler ist gezwungen, seinen Parfümladen im Luxuskomplex vor der Moschee vorerst zu schließen. Viele Restaurants, Friseurläden und andere Geschäfte seien "definitiv betroffen, insbesondere die Reisebüros", so Tayeb gegenüber der DW.
"Wir sind es nicht gewohnt, Mekka leer zu sehen", sagt auch Reiseveranstalter Ahmed Attia in einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP. "Die Stadt fühlt sich wie tot an. Für Mekka ist die Situation verheerend."
An der Entscheidung, den Hadsch als Großereignis abzusagen, werde sich gewiss nichts mehr ändern, meint Tayeb. Zwar begründet das saudische Königshaus mit der erfolgreichen Ausrichtung des Hadsch alljährlich auch seinen Führungsanspruch in der islamischen Welt. Klar ist jedoch: Bräche unter 2,5 Millionen dicht gedrängten Pilgern das Coronavirus aus, wäre dies für Saudi-Arabien eine Katastrophe. Bereits jetzt verzeichnet das Königreich laut der Johns Hopkins Universität über 209.000 Infektionen - schon deshalb wollte man in Riad kein unkalkulierbares Risiko eingehen.
Bedrohter Lebensunterhalt
Bereits seit März hat die absehbare Annulierung des Hadsch als internationales Großereignis zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten geführt. Der Hadsch wie auch die Omrah - die kleinere, das ganze Jahr über mögliche Pilgerfahrt - tragen mit 20 Prozent zu jenem Teil des saudischen Bruttoinlandsprodukts bei, der nicht auf dem Erdöl-Geschäft beruht.
Er und seine Kollegen seien nun schon seit vier Monaten arbeitslos, sagt ein Fahrer aus Medina - dem Ziel der Omrah-Pilger - der DW. "Früher haben wir hier jeden Tag gearbeitet, das war unser Lebensunterhalt", so der Mann, der seinen Namen öffentlich nicht preisgeben will.
Zusätzlich zu dem seit Jahresbeginn gefallenen Ölpreis und der Corona-Krise insgesamt erhöht der Ausfall des Hadsch die Einnahmeverluste noch einmal spürbar. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert für dieses Jahr bereits eine Schrumpfung der saudischen Wirtschaft um 6,8 Prozent.
Der Staat hat darauf bereits reagiert, etwa mit einer Verdreifachung der Mehrwertsteuer seit dem Juli. Auch die Kürzungen bei Subventionen werden für viele Saudis deutlich spürbar sein. Bereits im April waren die Konsumausgaben um durchschnittlich 34,6 Prozent gesunken.
Herausforderung für den Kronprinz
Die starken Beschränkungen von Hadsch und Omrah sind auch ein herber Schlag für das von Kronprinz Mohammed bin Salman (MbS) vorangetriebene Projekt "Vision 2030". Mit dem riesigen Reformvorhaben hatte MbS die Wirtschaft diversifizieren und weniger abhängig vom Erdöl machen wollen.Die Pläne hatten vorgesehen, bis Ende des Jahrzehnts die jährliche Zahl der Hadsch-Pilger auf sechs und die der Omrah-Pilger auf 30 Millionen zu erhöhen, ist einer von Sean McLoughlin im vergangenen Jahr präsentierten Studie über die Ökonomie der Pilgerfahrten zu entnehmen.
"Dieser Wirtschaftszweig könnte sich zwar wieder erholen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass dies in dem bis 2030 erwarteten Umfang geschehen wird", so McLoughlin gegenüber der DW.
Diese Entwicklung könnte Bin Salmans Autorität gerade unter jüngeren Bürgern des Königreichs schmälern, erwarten einige Analysten. Zum einen sollte der saudische Wohlfahrtsstaat im Umfeld der Vision 2030 verkleinert werden. Zum anderen stehen zahlreiche Arbeitsplätze in Branchen wie etwa dem Tourismus in Frage. "Für MbS wird die entscheidende Frage sein, ob er die Jugend für sich gewinnen kann", schrieb Andreas Krieg, Assistenzprofessor am King's College London, kürzlich dazu in der Online-Zeitschrift "Middle East Eye. Das Vertrauen in den saudischen Kronprinzen werde leiden, "sollten die autoritären Maßnahmen des Staates mit einer erhöhten Belastung des Durchschnittsbürgers einhergehen, wenn nicht zugleich dessen Mitspracherecht bei der Führung des Landes und den Ausgaben seiner Steuern erweitert wird", so Krieg.
Der Hadsch als emotionale Erfahrung
Wirksame medizinische Mittel gegen den Coronavirus scheinen derzeit in weiter Ferne. Darum ist unklar, wann die Behörden das Land trotz wirtschaftlichen Drucks wieder für Pilger öffnen werden.
Pilger, Reiseveranstalter und Hotels in Mekka verhielten sich derzeit zwar so, als würde die gesamte Hadsch-Industrie irgendwann im Laufe des Jahres wieder öffnen, sagt McLoughlin. "Fragen sollte man aber auch, in welchen Umfang das dann der Fall sein wird."
Bereits in früheren Jahren hatten Katastrophen der Hadsch zugesetzt - so etwa jene Massenpanik im Jahr 2015, bei der Nachrichtenagenturen zufolge mehr als 2000 Menschen ums Leben kamen. Nach dem Unglück wurde die Kompetenz der saudischen Organisatoren in manchen anderen islamischen Ländern offen angezweifelt.
"Der Ruf der Saudis wird bereits von vielen Kritikern in Frage gestellt", meint auch McLoughlin. Doch dies beeinträchtige die Gefühle die meisten Pilger kaum. "Sie empfinden weiterhin große Sehnsucht, die heiligen Stätten zu besuchen, in Gottes Haus einzutreten und in den Fußstapfen des Propheten Mohammed zu wandeln." Für sie sei der Hadsch ein großes emotionales Erlebnis. "Und das ist mit Blick auf die langfristigen Perspektiven des religiösen Tourismus sehr, sehr wichtig."