Lockdown bis Ostern?
12. Januar 2021Was zählt mehr? Der Infektionsschutz oder die unternehmerische Freiheit? Wie viel Lockdown kann sich ein Staat leisten, ohne sich finanziell zu überfordern und die Wirtschaft so weit ins Minus zu drücken, dass eine Pleitewelle und Massenarbeitslosigkeit die Folge sind? Die deutsche Politik hat diese Frage für sich beantwortet, indem die Wirtschaft im Lockdown weitgehend uneingeschränkt bleibt. Mal abgesehen davon, dass die Gastronomie, weite Teile des Einzelhandels und ein paar andere Bereiche geschlossen sind.
Auf diese Weise könnte man den Lockdown "sehr lange durchhalten", sagt Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Wie der Kampf gegen die Pandemie jetzt ablaufe, sei er finanziell verkraftbar. Schließlich gebe es "keinen ganz kompletten Stillstand", in Fabriken und Büros werde gearbeitet. Doch genau da liegt für viele Kritiker das Problem. Denn noch viel zu viele Menschen sind unterwegs, weil sie persönlich an ihrem Arbeitsplatz erscheinen müssen. Die Straßen sind voll, Busse und Bahnen ebenfalls.
Viel mehr Bewegung als im Frühjahr
Im zweiten Lockdown hat die Mobilität weitaus weniger abgenommen als im ersten. In der Politik löst das Alarmstimmung aus. Das Boulevardblatt "Bild" will von Bundestagsabgeordneten der Regierungsparteien CDU/CSU erfahren haben, dass die Bundeskanzlerin über eine weitere Verlängerung des Lockdowns über acht bis zehn Wochen nachdenkt.
Zehn Wochen? Das wäre bis Ende März, kurz vor Ostern. Merkel soll außerdem gesagt haben, wenn Deutschland es nicht schaffe, sich vor der britischen Virus-Mutation zu schützen, "dann haben wir bis Ostern eine zehnfache Inzidenz."
Auch Finanzminister Olaf Scholz will sich nicht festlegen, wann der Lockdown beendet werden kann. Es ergebe keinen Sinn, darüber zu spekulieren, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters.
15-Kilometer-Regel umstritten
Was aber meint die Kanzlerin mit "harten Maßnahmen"? Solche, die auch die Wirtschaft einschränken und damit die Kontakte deutlich reduzieren würden? Derzeit dürfen sich die Menschen in Hotspots mit hoher Inzidenz nur noch im Umkreis von 15 Kilometern um ihren Wohnort bewegen und das auch nur, wenn es einen zwingenden Grund gibt, die Wohnung zu verlassen. In Großstädten könnte diese Regelung wenig Wirkung zeigen, bemängeln Kritiker, denn die 15 Kilometer beginnen erst am Stadtrand.
Zudem gilt der Weg zur Arbeit als zwingender Grund, sich zu bewegen. Viele Arbeitgeber finden das offenbar gut. "Sie können doch nicht alle Betriebe schließen", warnt Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. Es sei wichtig, "die Menschen pandemiegeschützt, so gut es geht, in Brot und Arbeit zu halten", sagt er in einem Zeitungsinterview. Unter "pandemiegeschützt" verstehen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Politiker allerdings nicht immer das Gleiche.
Nur 14 Prozent im Homeoffice?
Nach Schätzung des Münchener Ifo-Instituts könnten 56 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland ihre Arbeit zuhause erledigen. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hat in einer repräsentativen Befragung unter Beschäftigten aber erfahren, dass im November 2020, als der "leichte" Lockdown schon lief, nur 14 Prozent aller Arbeitnehmer überwiegend oder ausschließlich zu Hause gearbeitet haben. Im ersten Lockdown waren es 27 Prozent, im Juni 2020 noch 16 Prozent.
"Wir brauchen, wo immer es geht, die Möglichkeit für Beschäftigte, von zuhause aus zu arbeiten und zwar sofort," fordert Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, der deshalb am Dienstag mit den Personalvorständen der großen, im Deutschen Aktienindex gelisteten Unternehmen sprach. "Deshalb ist die klare Erwartungshaltung der Bundesregierung und auch der Ministerpräsidentenkonferenz, dass da, wo es betrieblich möglich ist, mobiles Arbeiten im Sinne von Homeoffice auch ermöglicht wird."
Die Politik kann nur bitten
Mehr als appellieren kann der Arbeitsminister allerdings nicht. Noch scheut sich die Bundesregierung davor, das Homeoffice verpflichtend zu machen, wie es beispielsweise Frankreich und Belgien schon vor Monaten getan haben. Dort drohen bei Verstößen hohe Geldstrafen. Wenn es nach den Grünen ginge, würde in Deutschland ähnlich verfahren. "Großraumbüros sind Risikogebiete", twittert die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt. "Uneinsichtige Arbeitgeber" müssten zur Not per Gesetz gezwungen werden, die Beschäftigten von daheim aus arbeiten zu lassen.
Man habe sich "noch nicht" entschieden, das Homeoffice verpflichtend zu machen, sagte die Bundeskanzlerin nach der letzten Verschärfung des Lockdowns. Will heißen, das könnte sich noch ändern. Am 25. Januar wollen die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin erneut darüber beraten, wie es weitergehen soll. Bis dahin wird weiter diskutiert. Auch in den sozialen Medien, in denen immer mehr Arbeitnehmer ihrer Wut darüber Luft machen, dass sie weiterhin ins Büro kommen sollen.
Warnung an die Arbeitnehmer
"Ich möchte nach 19 Jahren kündigen", schreibt eine Userin, die weiter im Büro arbeiten muss und Angst um ihre Gesundheit hat. "Es entscheiden Chefs aus ihrem Einzelbüro heraus über das Schicksal der Mitarbeiter im Großraumbüro." Seine Kollegen und er seien in Schichten aufgeteilt worden, an drei Wochentagen aber immer noch zu zwölft im Büro, schreibt ein Twitter-User. "Zu allem Überfluss findet nächste Woche ein gemeinsames Frühstück je Schicht statt, bei dem alle gemeinsam in einem Raum sitzen! ES REICHT!!"
Dieser Meinung ist auch der Bundesarbeitsminister, der in den nächsten Tagen weiter mit Unternehmen und Gewerkschaften darüber reden will, wie mehr Menschen zu Hause bleiben und dort arbeiten können. Für die Arbeitgeber hält er eine Warnung bereit: "Wir müssen mit aller Macht verhindern, dass Arbeitsplätze zum Infektionsort werden. Denn keiner von uns kann wollen, dass wir über die ergriffenen Maßnahmen hinaus die gesamte Wirtschaft in den Lockdown schicken müssen", so Heil. "Die Bänder laufen und das soll möglichst auch so bleiben."