Athen lässt es langsam angehen
14. März 2017Eigentlich ist es eine Sensation. Die Documenta findet nicht allein - wie seit 1955 alle fünf Jahre - in Kassel statt. Diesmal ist die bedeutendste Kunstschau der Welt auch in der griechischen Hauptstadt zu Gast. Doch in Athen merkt man bis heute nichts davon. Gut einen Monat vor der Eröffnung - keine Plakate im Stadtbild, keine Hinweise. Selbst am zentralen Ausstellungsort, dem Museum für zeitgenössische Kunst (EMST) hing bis letzte Woche nur das Banner der letzten Gemeinschaftsschau mit Antwerpen.
Das mag sich jetzt ändern. Erst vor ein paar Tagen ist in Kassel offiziell verkündet worden, wie die Zusammenarbeit mit dem EMST konkret aussehen soll. Dessen Sammlung griechischer und internationaler Kunst, die bislang mangels Geld in Athen nur partiell zu sehen war, wird zuerst in Kassel gezeigt. Auch das eine Sensation. Dafür ziehen in das leerstehende Gebäude der ehemaligen Fixbrauerei die Documenta-Künstler ein. Welche? Documenta-Leiter Adam Szymczyk nennt bisher keine Namen.
Documenta? Was ist das?
"Documenta? Nie gehört", sagen befragte Taxifahrer unisono und sind natürlich erfreut zu hören, dass die internationalen Kunsttouristen schon bald ihre Kasse aufbessern könnten. Seit Monaten laufen in einem städtischen Kunstraum im zentralen Parko Eleftherias Programme wie "Parlament der Körper" mit Performances und Diskussionen zu Fragen des öffentlichem Raumes, der künstlerischen Selbstorganisation, Genderdebatten und Auswirkungen von globalem Kapitalismus und Kolonialismus. Dann noch das tägliche Filmprogramm um Mitternacht auf dem öffentlichen Sender ERT. Doch wer bekommt das alles mit? Und an wen wendet sich die Documenta?
"Das Kuratoren-Team der Documenta hat weder meine noch andere Galerien kontaktiert", sagt Ileana Tounta, nicht anklagend, aber doch sichtlich irritiert. Sie leitet die gleichnamige Galerie für zeitgenössische Kunst seit dreißig Jahren und ist eine Institution in Athen. Von Anfang an hat Tounta junge Künstler gefördert, mit speziellen Ausstellungen und ihren Kontakten zu den wenigen Sammlern in Athen, die diese Kunst schätzen. Außerdem berät sie als Vorsitzende des Galerienverbandes den Stadtrat, und der hat der Documenta die Villa im Parko Eleftherias zur Verfügung gestellt.
Das "Headquarter" der Documenta hat eine schlimme Geschichte. An diesem Ort wurden während der Militärdiktatur in den 1970er Jahren Menschen gefoltert. Es ist eines der großen Themen der Documenta. "Ich habe das Gefühl, dass da Leute von außen kommen und uns sagen, wie wir auf Athen und auf unsere Geschichte zu blicken haben", meint die Galeristin. Das sei doch kolonialistisch. Ihre Einschätzung widerspricht diametral dem, was die Documenta will. Aber scheinbar denken viele so.
Athen wird exotisiert
"Die Documenta kommt hierher unter dem Motto 'von Athen lernen', aber die Mehrheit der Athener ist ihnen egal. Ich glaube nicht, dass die Geschichte der Militärdiktatur in der Art, wie die Documenta sich damit beschäftigt, irgendjemanden hier interessiert", sagt Kostis Velonis. Er sieht eine Tendenz, Athen zu " exotisieren", als Ort des Widerstands, vor allem gegen den Kapitalismus zu stilisieren. Velonis ist einer der nicht gerade zahlreichen international renommierten griechischen Künstler. Er unterrichtet an der Athener Kunstakademie. Mehr durch Zufall ist er mit dem "education program" der Documenta in Kontakt gekommen. Seine Studenten hatten die Chance, mit einigen Documenta-Künstlern zu arbeiten.
"Dieser Austausch war schon klasse für uns. Wann haben wir sonst die Möglichkeit, mit internationalen Künstlern zu diskutieren und ihre Positionen kennenzulernen", erzählt Evangelia Dimitrakopoulou immer noch begeistert. Die Bildhauerin steht kurz vor ihrem Abschluss an der Akademie, und sie ist auch als jüngste Künstlerin in der aktuellen Gruppenschau in der Galerie Ileana Tounta vertreten. In Ihren Installationen beschäftigt sie sich mit Tradition, etwa griechischem Kunsthandwerk. Dazu benutzt sie Haare. Kein echtes Haar, das sei zu teuer. Es gäbe keine öffentlichen Förderungen für Künstler, deshalb will sie nach ihrem Abschluss ins Ausland und eventuell auf Kunsttherapie umsatteln. Eine Perspektive, in Griechenland als Künstlerin zu arbeiten und zu überleben, sieht sie wie viele andere nicht. "Hier ist man Stolz auf die Antike, und da geht das wenige Geld, das überhaupt da ist, rein, aber zeitgenössische Kunst gilt nichts. Die ist Luxus." Von der Documenta in Athen erhofft sie sich, dass sich das ändert, dass möglichst viele "normale Leute" davon etwas mitkriegen und dass die zeitgenössische Kunst endlich mal als wichtig wahrgenommen wird.
Zeitgenössische Kunst gilt nichts
"Es ist ein Lernprozess für alle", meint hingegen Elina Kountouri. "Zeitgenössische Kunst kann nicht nur gesellschaftliche Diskussionen in Gang setzen, sondern ist auch ein Wirtschaftsfaktor." Und sie ist optimistisch, dass das die Verantwortlichen im Kulturministerium auch endlich verstehen. Kountouri leitet "NEON", eine Organisation, die seit 2013 junge Künstler mit Produktionsgeldern und Ausstellungen fördert. Warum man in Zeiten der Krise jetzt unbedingt Geld in diesen Sektor geben soll, das sei vielen Menschen und leider auch der Regierung wohl bislang nicht klar. Immerhin, die Stadt Athen habe schon erkannt, dass die Documenta ein Katalysator sein könne. Aber auch Elina Kountouri beklagt, dass das bei den Athenern noch nicht angekommen sei.
"Nach meinem Verständnis müsste ganz Athen von der Documenta sprechen", empört sich Alexis Alatsist, "aber die jüngste Pressekonferenz in Kassel, gemeinsam mit dem Athener EMST, war hier nicht mal eine Meldung wert!" Der Theaterregisseur war als Kulturmanager an Großprojekten, wie der Athener Olympiade oder Kulturhauptstadt Patras, beteiligt. Dass die Documenta es bislang nicht geschafft hat, mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu bekommen, versteht er nicht. Von Seiten des griechischen Teams habe kaum jemand Erfahrungen mit großen Veranstaltungen, aber es gäbe auch eine Unfähigkeit der lokalen Szene, "aus dem eigenen Saft herauszutreten" und sich auf einen Dialog mit etwas Neuem einzulassen. An der allgemeinen Geringschätzung zeitgenössischer Kunst müsse die Documenta rütteln, verlangt er. "Natürlich ist es eine Riesenchance. Aber wenn das Ganze zu einer reinen Kunstausstellung degradiert wird, die kaum einer wahrnimmt, wo die Besucher nur hinkommen, um die internationale Kunstszene zu sehen, dann wird das hier keine nachhaltige Wirkung haben, dann bringt das nichts!"
Motor für die Stadtentwicklung
Auf der "Platia Avdi", in Metaxourgio, sitzen die Menschen vor den neuen Cafés in der Sonne. Bei vielen Athenern gilt die Gegend immer noch als Schmuddelecke, mit Rotlichtbezirk, Drogen und vielen Ausländern. Doch inzwischen gibt es dort hippe Restaurants, Bars für Schwule und Lesben und eine staatliche Kunsthalle. Das aufwändig sanierte, einstige Kaufhaus liegt direkt an dem Platz und ist ein weiterer Standort für die Documenta. Eine Straßenecke weiter stoßen Welten aufeinander: Ultramoderne, kubische Wohnkomplexe mit Hightech-Überwachung bilden die Kulisse für die Essensausgabe der Steliosfoundation. Die Menschen - alte, junge, Ausländer und "ganz normal" gekleidete Griechen - stehen Schlange für zwei Pakete Kuchenbrot.
Nikos, der bei der Verteilung hilft, hat auch noch nichts von der Documenta gehört. Er findet es aber gut, dass sich die Gegend verändert: "Erst kommen Künstler und Touristen. Später ziehen vielleicht besser Situierte nach." Ob die Menschen, denen er gerade hilft, die Mieten irgendwann nicht mehr bezahlen können? "Immer noch besser, als wenn die vielen schönen alten Häuser verfallen", sagt Nikos, "der Staat hat ja eh kein Geld, sie zu erhalten."
Ob die Documenta die Kraft hat, in die Stadt auszustrahlen, wird sich zeigen. Der Auftakt immerhin soll spektakulär werden. Ob aber die Idee funktioniert, "von Athen zu lernen"? Und ob auch die Gastgeber davon profitieren? Das wird sich wohl erst am Ende der Athener Kunstschau, frühestens im Juli, herausstellen.