COVID-"Durchseuchung": Zurücklehnen geht nicht
6. Januar 2022Das Thema "Durchseuchung" kommt bei Diskussionen über COVID-19 immer häufiger auf, vor allem seit sich die Omikron-Variante des Virus SARS-CoV-2 rasant ausbreitet. Aber was genau ist damit eigentlich gemeint?
Das Wichtigste gleich zu Beginn: "Durchseuchung ist ein fürchterlicher Begriff", sagt Tobias Kurth, Direktor des Instituts für Public Health an der Berliner Universitätsklinik Charité und Professor für öffentliche Gesundheit und Epidemiologie. "Es geht eigentlich um eine Grundimmunität."
Die entscheidende Frage lautet, vereinfacht gesagt: Wenn sich jetzt immer mehr Menschen mit Corona anstecken, können wir nicht einfach darauf hoffen, dass irgendwann jeder die Krankheit hatte und die Bevölkerung immun ist? Hände in den Schoß legen und schauen, was kommt?
Ganz sicher nicht, sagt der Gesundheitsminister und Epidemiologe Karl Lauterbach (SPD). "Eine Durchseuchung ist keine Option", erklärte er in einem Interview mit dem TV-Sender n-tv. "Auch, wenn Omikron wahrscheinlich nicht so schwer verläuft wie die Delta-Variante, bleiben doch sehr viele Menschen zurück, die leider auch bleibende Schäden haben werden".
Die Grundimmunität, die laut Kurth im Fokus stehen sollte, entsteht in einer Bevölkerung dann, wenn das Immunsystem eines Großteils der Menschen eine Verteidigung gegen ein Virus aufbauen konnte - aber eben nicht nur durch vorherige Erkrankung, sondern auch durch Impfungen.
Das Ziel: Keine schweren Krankheitswellen mehr
"Das Entscheidende ist, dass das Immunsystem aktiviert wurde, entweder durch Kontakt mit dem [SARS-CoV-2] Virus oder mit einem Impfstoff", erklärt Kurth. "Wir hoffen, dass irgendwann genug Personen Kontakt hatten, dass es kaum noch schwere Verläufe gibt und nicht allzu viele Menschen gleichzeitig krank werden."
Mit dem Abschwächen der Wellen, die in der aktuellen Pandemie immer wieder Gesundheitssysteme an den Rand des Zusammenbruchs bringen, wäre SARS-CoV-2 dann endemisch, so wie beispielsweise Influenza.
Wann genau das der Fall sein könnte, ist schwer abzuschätzen, denn die Immunantwort bei COVID ist nicht stabil. Auch Menschen, die bereits genesen sind, können sich nochmal anstecken. Auch Impfdurchbrüche kommen vor, besonders, wenn wieder eine neue Variante aufgetreten ist. Glücklicherweise "erinnert" das Immunsystem sich aber auch in diesen Fällen bis zu einem gewissen Grad an den vorherigen Kontakt und reagiert dann meist so, dass die Krankheit milde verläuft.
Einen Kontakt des Immunsystems mit einer neuen Virusvariante "kann man sich so vorstellen, wie wenn jemand einen Dialekt spricht", sagt Kurth. "Wenn ich Hochdeutsch spreche, kann ich mich in Bayrisch reinhören, auch wenn ich es nicht hundertprozentig verstehe."
"Durchseuchung" gefährlich für Ungeimpfte - und Geimpfte
Aber damit das Immunsystem so auf einen "Dialekt" reagieren und uns vor einem schweren COVID-Verlauf schützen kann, muss es schon einmal mit dem Coronavirus oder einem Impfstoff dagegen in Kontakt gekommen sein. Und in Deutschland haben laut Robert-Koch-Institut rund 15,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung (18 Jahre und älter) noch keine erste Impfung erhalten. In einigen Bundesländern liegt diese Zahl sogar bei mehr als 25%.
Diese Menschen wären bei einer "Durchseuchung," wenn also dem Virus freie Bahn gelassen würde, einem hohen Risiko ausgesetzt. "Wenn wir viele Menschen sich mit der Omikron-Variante anstecken lassen, wird es aufgrund der erwarteten wahnsinnig hohen Anzahl der Fälle Viele geben, die krank werden", warnt Kurth.
Auch für Kinder und Jugendliche würde eine "Durchseuchung" riskant sein. Von den 12- bis 17-Jährigen in Deutschland sind knapp 40%, noch gar nicht geimpft. Bei ihnen, und bei den noch jüngeren Kindern, verlaufen COVID-Erkrankungen zwar meistens ohne schwere Symptome. Aber Experten warnen davor, dass über die Langzeitfolgen bisher wenig bekannt ist. Deshalb sollten auch jüngere Menschen sich so gut es geht vor dem Coronavirus schützen.
Selbst Geimpfte könnten sich nicht entspannt zurücklehnen, betont Kurth. "Auch wer geimpft oder genesen ist, kann, wenn auch selten, nochmal schwerer erkranken. Das ist wie Russisch-Roulette spielen", sagt der Epidemiologe.
Auch deshalb lehnt er es ab, auf eine "Durchseuchung" zu setzen. "Das Risiko ist viel zu hoch."