Cybermobbing - Die anonyme Gefahr
19. Juni 2011Alexander ist zwölf Jahre alt. Seit Wochen geht er nicht mehr zur Schule. Er traut sich nicht mehr. Denn ein Schüler seiner Schule hat ihn bedroht. Alexander wird gemobbt. Alles fing damit an, dass er eine belanglose Nachricht im sozialen Netzwerk SchülerVZ an den falschen Adressaten schickte.
Die Antwort des irrtümlichen Empfängers ließ nicht lange auf sich warten. Er kündigte an, dass sich Alexander in der Schule schon noch wundern werde, was ihm alles passieren wird. Als Alexander eine Online-Entschuldigung nachschob, kam prompt die die drohende Antwort "ja, Pech".
Alexander kennt den Schreiber der Drohungen, der dieselbe Schule besucht, nur flüchtig. Auf dem Schulhof macht er nach der unangenehmen Nachricht einen großen Bogen um den neuen Feind. Der lässt, wenn sich die Begegnung nicht vermeiden lässt, im Vorbeigehen eine kurze Drohung Richtung Alexander ab. Wieder zuhause, wartet schon die nächste Mobbing-Attacke im Internet auf Alexander: "Ja, dann hat er geschrieben: ich schlage Dich bis Du im Krankenhaus liegst und stirbst."
Anonyme Bedrohung - nicht nur virtuell
Als es zu den Zwischenfällen kommt, fällt Alexanders Mutter zwar auf, dass ihr Sohn auf einmal "komisch" wird und nicht mehr zur Schule will und Krankheiten simuliert. Doch Nachfragen weicht er aus. Seine Mutter ist ratlos.
Carmen Trenz beschäftigt sich als Pädagogin schon lange mit dem Thema Mobbing unter Kindern und Jugendlichen. Sie erklärt, dass Mobbing kein reines Phänomen des Internets ist.
80 Prozent der Opfer werden sowohl im Internet als auch im realen Leben bedroht. Die Täter verstecken sich eben nicht immer in der Anonymität des World Wide Web. Allerdings gibt es beim Cybermobbing Unterschiede zum normalen Mobbing - mit gravierenden Folgen für die Opfer. Denn es gibt keine Schutzzone mehr: "Früher, beim Mobbing in der Schule, da hatte man zumindest zuhause seine Ruhe. Dagegen kommen beim Cybermobbing die Anfeindungen ja auch bis nach Hause - und es geht rasend schnell." Zudem verleite die Anonymität im Internet schnell auch andere dazu, beim Mobbing mitzumachen.
Mobbing macht krank
Trotz der vorgetäuschten Krankheiten drängt Alexanders Mutter ihren Sohn in die Schule. Sie gibt ihm Medikamente, geht mit ihm zum Arzt, lässt ihn genauestens untersuchen. Doch der ärztliche Befund ergibt nichts. Alexander zeigt Symptome, die typisch für ein Mobbing-Opfer sind.
Er habe jeden Abend das Essen verweigert, erinnert sich seine Mutter. "Er lief bis drei, vier Uhr morgens hier durch die Wohnung und hat gesagt, er könnte nicht schlafen und ihm ginge es nicht gut. Er hat im Grunde genommen rund um die Uhr versucht, Krankheiten zu haben und mir zu erzählen, warum er jetzt auf gar keinen Fall am nächsten Tag in die Schule gehen kann. Das gipfelte dann morgens in unheimliche Heulkrämpfe."
Erst fast drei Wochen nach dem Beginn der Mobbing-Attacken vertraut sich Alexander endlich seiner Mutter an. Sie reagiert geschockt, obwohl sie geahnt hatte, dass irgendetwas nicht stimmen konnte. Von Cybermobbing hatte sie bis zu diesem Tag aber noch nie etwas gehört.
Zur Angst kommt die Scham
Alexanders langes Schweigen ist bezeichnend für Opfer von Cybermobbing. Carmen Trenz verweist auf die Gründe dafür: "Zum Teil, weil sie nicht glauben, dass ihnen irgendjemand helfen kann, das ist oft ein sehr wesentliches Argument. Oder weil sie sich einfach total schämen, dass ihnen sowas passiert. Wenn sie darüber sprechen, denken sie, dass dies die Sache nur schlimmer machen könne", erläutert die Mobbing-Expertin.
Erschreckende Zahlen
Was Opfer von Cybermobbing durchmachen müssen, können sich Außenstehende nur schwer vorstellen. Die seelischen Leiden sind dabei die schlimmsten und die Zahlen sind erschreckend: Nach einer jüngsten Forsa-Studie im Auftrag der Techniker Krankenkasse erklärten 32 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren, schon mindestens einmal unter einer Cybermobbing-Attacke gelitten zu haben. Allein in Nordrhein-Westfalen wären so rund 400.000 Schüler zum Opfer von Cybermobbing geworden.
Allerdings haben Wissenschaftler auch festgestellt, dass es beim Mobbing nicht nur die vermeintlich Schwachen oder die Außenseiter treffen muss, betont Expertin Carmen Trenz: Die Gruppe sei für das Mobbing verantwortlich, denn sie lehne das Opfer durch eine Gemeinschaftsaktion ab. Alle machten unbewußt mit. Für Eltern von Opfern von Cybermobbing empfiehlt die Expertin, die Konfrontation mit dem Mobber oder dessen Eltern zu vermeiden. Stattdessen solle man das Gespräch mit der Schule suchen und "natürlich seinem Kind sagen, dass man es unterstützt. Also einfach ruhig, aber bestimmt sagen: Das geht nicht! Und da müssen wir gegen vorgehen."
Autor: Arne Lichtenberg
Redaktion: Hartmut Lüning